„Das kann man so nicht sagen…“, er lächelte: „Sieh nur, es beginnt zu schneien!“
Er klang wie ein kleines Kind und sie musste unwillkürlich zurück lächeln: „Ja, es schneit.“
„Da werden sich die Leute, die gerade die Weihnachtseinkäufe machen aber freuen…“
„Meinst du?“
„Klar, was gibt es Weihnachtlicheres als Schnee?“, sein Spott triefte.
„Magst du den Schnee nicht oder magst du Weihnachten nicht?“
„Ich liebe Weihnachten, wirklich. Ich liebe Weihnachten, wenn Weihnachten vor Kitsch trieft. Ich mag meine Familie an Weihnachten und ich mag kleine interessante Geschenke, aber dieser Weihnachtskaufrausch ist einfach übertrieben. Was wollen sich die Leute damit beweisen? Sie zeigen: He, ich gebe Geld aus, also gib du auch für mich Geld aus. Weihnachten besteht aus Dollarzeichen in den Augen der Verkäufer. Das hat nichts mit dem eigentlichen Fest zu tun.“
„Und was ist das eigentliche Fest?“
„Du weißt so gut wie ich, dass es ein kirchliches Fest ist. Ich weiß ja nicht, ob es dich überraschen wird aber ich glaube nicht an die Kirche. Was die Kirche erzählt und was sie will, ist oftmals nicht lupenrein. Die heutige Kirche stellt sich als Moralapostel hin, ohne daran zu denken, wie schrecklich ihre eigene Vergangenheit gewesen ist. Andererseits gibt es einige Dinge, die die Kirche predigt und die ich als essentiell ansehe. Wie die Nächstenliebe. Nächstenliebe ist wichtig. Allerdings muss es dafür nicht immer direkt vor Weihnachten diese nervenden Spendenaufrufe geben. Sicherlich, Kinder in der Dritten Welt verhungern, aber nicht nur vor Weihnachten. Weihnachten ist eine Zeit der Besinnung, und da kann man sich erst mal auf seine Nächsten besinnen. Und wenn man gegen die besser ist, so ist zumindest denen schon mal unmittelbar geholfen. Wenn man dann noch ein wenig Geld zur Verfügung hat, so sollte man es den armen Kindern geben. Wieso schenkt man sich zum Beispiel nicht mal eine Patenschaft zu Weihnachten? Wär doch super. Da hat man zumindest was Gutes und was Sinnvolles getan. Und eine Patenschaft kann man ja auch nicht einfach abtun …“
„Du redest gerne, hm?“
„Ja, sehr gerne.“
„Manchmal ein bisschen verworren, oder?“
„Stimmt“, er lächelte: „Wenn ich erst mal anfange, dann vergesse ich jegliche Vorsicht und alles um mich herum. Und dann kommt das Kind in mir raus, das eine bessere Welt haben will. Eigentlich sollte ich zu erwachsen sein, um noch auf eine bessere Welt zu hoffen. Ich meine, ich bin neunzehn. Wie lange will ich denn noch daran glauben, dass ich die Welt verändert bekomme?“
„So lange es geht.“
„Ja, das stimmt. ‚So lange es geht‘ ist ein guter Zeitraum.“ Er sah auf ihre zahlreichen Tüten: „Auch ne Art von Konsum. Hatte der Kaufrausch neben Weihnachten einen Grund?“
„Kann ein Mann das verstehen?“
„Du kannst versuchen, es ihm zu erklären.“
„Manchmal habe ich das Gefühl, dass ich in meinem Leben nie das schaffen werde, was sich zum Beispiel meine Mutter für mich vornimmt. Dann beginne ich mich hilflos zu fühlen. Ich bin immer und in allem was ich mache gut. Aber ich habe nichts, was mich wirklich begeistert. Manchmal glaube ich, ich bin nicht begeisterungsfähig. Scheißgefühl kann ich dir sagen. Jedenfalls. Wenn ich dann einkaufen gehe und mich in einzelne Sachen verliebe, dann geht das Gefühl weg. Dann bin ich begeistert. Krasser ausgedrückt: Wenn ich mich im Spiegel mit Dingen sehe, die mir gut stehen, bin ich begeistert von mir selbst und schwupps, schon ist das Trübsal vergessen.“
„Du bist nicht begeisterungsfähig?“, er schüttelte ungläubig den Kopf: „Das glaube ich nicht. Vielleicht setzt du dich nur zu sehr unter Druck.“
„Na ja ich kann mich schon für was begeistern.“
„Und für was?“
„Das hört sich komisch an. Aber… Weißt du, für die Welt. Manche Sonnenuntergänge oder Aufgänge, manche Lichtspiele, manchmal im Herbst, wenn die Blätter fallen, dann bin ich so hin und weg, dass ich die Welt am liebsten umarmen wollen würde“, sie grinste schief: „Aber das ist keine Begeisterung, die ich zum Beruf machen könnte.“
Aufmerksam blickte er sie an: „Machst du dir viele Gedanken um einen Beruf?“
„Bei so einer Mutter wie meiner bleibt das gar nicht aus. Aber egal wie oft ich nachdenke, ich habe keine Ahnung, was ich gerne für den Rest meines Lebens machen möchte.“
„Das Problem kenne ich. Mach dir mal nicht zu viele Gedanken. Irgendwann hast du einen Geistesblitz. Ich warte zwar auch noch immer darauf, aber irgendwann kommt er sicher.“
„Ja, irgendwann. Damit wird sich meine Mutter aber nicht zufrieden geben…“
Er nahm ihre Hand: „Der Schnee bleibt liegen. Wenn wir noch lang genug warten, können wir ne Schneeballschlacht machen. Würdest du dich dafür begeistern?“
„Ich denke, das könnten wir mal ausprobieren. Aber nur, wenn du mich gewinnen lässt.“
Er drückte die Hand: „Ich werde es mir überlegen. Und nun sollten wir mal weiter gehen. Shoppen. Oder Leute beobachten. Oder Sex in der Umkleide haben…“
„Oh ja, das auf jeden Fall“, grinste sie.
„Wie war das noch: Bist du unberührt?“
„Unberührt wie … Keine Ahnung. Nein. Nein bin ich nicht. So wenig wie du.“
„Woher weißt du das?“
„Ganz einfach, ich sehe deinen Augen an, das sie wissen, wie Sex geht.“
„Meine Augen haben Pornos gesehen, ich würde mich nicht drauf verlassen, was Augen sagen… Denn wenn es nach denen und den Pornos geht, dann wissen sie sicher, wie Sex geht.“
„Aber ich habe Recht?“
„Dass ich Sex hatte? Ja, das würde ich schon sagen.“
„Und mit wieviel verschiedenen?“
„Als ob ein vernünftiger Mann das sagen würde.“
„Ich hatte drei Typen.“
„Drei?“
„Ja, drei. Zu wenig?“
„Zu viel.“
„Auf jeden Fall. Du hattest wahrscheinlich die doppelte Anzahl an Mädchen und das ist dann immer noch wenig, oder?“
„Klar, das hatten wir ja schon mal. Bei Männern und Frauen wird mit verschiedenen Maßstäben gemessen. Aber ich denke, drei sind durchaus annehmbar.“
„Danke mein Meister…“
Sie standen auf und gingen in das Schneegestöber hinein.
„Und wie waren die drei so?“
„Das willst du nicht wirklich wissen.“
„Stimmt, ich will es nicht wirklich wissen, aber es interessiert mich.“
„Lass uns das Gespräch auf wann anders verschieben. Ich kenne dich kaum und darum… darum muss ich dir ja nicht alles auf die Nase binden. Vielleicht bist du ein Spinner.“
„Oh, das bin ich sicherlich.“
„Oder ein Kranker. Ich hab ja keine Ahnung. Du könntest auch ein Schwätzer sein.“
„Und was genau verstehst du unter einem Schwätzer?“
„Jemand, der nur so tut als sei er so wie er sich gibt. Jemand, der meint, wenn er ein bisschen herumredet, dann würde er die Frauen schon alle einwickeln können. Und hat er sie erst eingewickelt, dann lässt er sie gehen.“
„Wenn das ein Schwätzer ist, dann bin ich einer.“
„Ich denke nicht. Ehrliche Menschen fallen nicht unter meine Definition eines Schwätzers. Und ehrlich bist du anscheinend.“
„Anscheinend? Na ja, du hast wohl Recht. Man kann sich nie sicher sein. Aber… Wann wirst du sicher sein?“
„Wenn wir ein bisschen mehr Zeit beieinander verbracht haben.“
„Das sollte zu schaffen sein. Wir haben ja noch den ganzen Tag. Oder?“
„Ich habe nichts vor.“
„Trifft sich gut, ich nämlich auch nicht. Und wohin gehen wir?“
„Am besten in einen kleinen Laden.“
„Einen kleinen Laden, wieso denn das? In einem kleinen Laden gibt es viel weniger Klamotten, als in den großen. Und ich dachte, eine Frau würde es dahin ziehen, wo man die meisten Klamotten anziehen kann.“
„Siehst du, so wenig weißt du über Frauen. Und das nur, weil du zu kurz mit allen zusammen warst… Obwohl, vielleicht stimmt es, und die meisten gehen lieber in die großen Läden. Ich nicht. Wenn ich in die großen gehe, dann habe ich nur die Klamotten, die alle anderen auch haben. Und das will ich nicht. Außerdem verschlingen die großen die Kleinen eh schon. Darum unterstütze ich die.“ Und so gingen sie gemeinsam einkaufen. Und weil er in Geldausgeberstimmung kam, kaufte er ihr einen Rock. Einen kurzen. Weil er ihn gut fand und sie ihn auch. „Und den trag ich dann nur für dich?“, fragte sie und grinste.
„Für wen sonst?“, er nahm ihre Hand und sie strolchten zum Weihnachtsmarkt: „Lust auf Glühwein?“
„Ehrlich gesagt, habe ich noch nie Glühwein getrunken.“
„Nicht? Es gibt nichts Besseres bei dem kalten Wetter und gegen rotgefrorene Finger.“
„Dann kann ich eh nicht Nein sagen, oder?“
„Korrekt.“
Sie kauften sich Glühwein und stellten sich an einen der Stände. Abwechselnd trank sie und knetete ihre Finger wieder warm.
„Lass mich das machen“, er setzte sein dampfendes Getränk ab und nahm ihre Finger, die er in seine fasste: „Du bist süß, weißt du? Der Schnee hat sich in deinen Haaren festgesetzt… Gefällt mir.“
In diesem Moment spürte er etwas in sich, was er nie vorher bemerkt hatte. Und er wunderte sich, weil ihm für dieses Gefühl die Worte fehlten, was nur selten vorkam. Er war der Beste im Interpretieren und Analysieren. Aber nun? Nun sah er auf dieses Mädchen herunter, das eine vollkommen rote Nase hatte und hielt ihre eiskalten Finger zwischen seinen. Er kannte sie kaum und doch so lange, und alles, was er für irgendwelche anderen Mädchen empfunden hatte, konnte sich nicht mit dem für sie messen. Nichts kam auch nur im Entferntesten an diese Gefühle heran. Wann waren die entstanden? In der Disco, da hatte er sie geil gefunden, und er hatte sie beobachtet. Aber… Dann hatten sie sich nicht gesehen und er hatte kaum an sie gedacht… Aber als er sie eben gesehen hatte, hm… Er hatte es für einen ziemlich glücklichen Zufall gehalten. So glücklich, dass er sich nun eingestehen musste, dass sie ihn vollkommen für sich eingenommen hatte.
„Was hältst du davon, wenn wir Silvester miteinander verbringen?“
„Silvester? Das ist erst in drei Wochen.“
„Ist dir das zu weit zum Planen?“
Sie schüttelte den Kopf: Nichts würde sie lieber tun, als Silvester mit ihm verbringen.
„Gut. Dann haben wir das ja abgemacht.“
„Und jetzt?“
„Jetzt trinken wir den Glühwein, wieso?“
„Es hat sich so angehört, als ob du dich verabschieden willst.“
„So n Quatsch. Wir haben doch erst…“, er sah auf die Uhr: „…Oh, schon gleich sechs. Hätt ich nicht gedacht. Aber ich habe noch den ganzen Abend Zeit.“
„Wie wäre es mit einer Pizza?“
„Klingt gut. Willst du nicht mehr einkaufen?“
„Nein, ich kann eh nicht mehr Tüten tragen “, sagte sie, nahm ihre Tüten in die Hand und machte sich bereit, um den Gang durch den Schnee wieder anzutreten. Er nahm ihr die Hälfte der Tüten ab und sie gingen zu einem der Studentenitalienern. Dort gab es die günstigste Pizza.
Nach dem Essen drängte er raus. Der Schnee hatte sich wie eine Decke über die Straßen, die Autos und über Büsche verbreitet. Alles war eingedeckt. Und immer noch fiel mehr Schnee. Mit der Hand strich Simon an einem Wagen entlang, häufte Schnee an und formte ihn dann zu einem Schneeball. Lotte musterte ihn: „Und nun? Nun wirst du mir zeigen, was ein richtiger Mann ist und wie der eine kleine Frau einseift.“
„Eine kleine Frau? Du bist die Größte, die ich kenne…“
„Ah ja…“, sie wusste nicht genau, in welchem der beiden Sinne er es gemeint hatte. Klein war sie zumindest nicht. Aber… Noch ehe sie weiter nachdenken konnte, hatte sie einen Schneeball etwas oberhalb des Busens hängen: „Simon!“Doch sie beschwerte sich nicht und formte statt dessen nun ihrerseits einen Schneeball, der besser traf als seiner. Denn ihr Schneeball traf ihn im Gesicht.
„He!“entrüstete er sich: „Ich habe extra nicht auf dein Gesicht gezielt.“
„Nicht darauf gezielt? Du hast es nur nicht getroffen… Und wolltest du etwa meine Brust treffen? Aber selbst das ist dir nicht gelungen. Lass mich raten: Du bist kein guter Sportler.“
„Ich bin vielleicht kein guter Werfer, aber ich bin ein super Skater. Du wirst es nicht glauben… Wir müssen mal auf ne Bahn, ich kann dir ein paar Stunts zeigen, die werden dich umhauen“, während er das sagte, hatte er sich über ein weiteres Auto gelehnt und wieder Schnee zusammengeschoben. Aber er hatte Lotte dabei außer Acht gelassen. Und Lotte war schnell. Sie kratzte rasch und still Schnee zusammen, schlich sich von hinten an ihn heran und seifte ihm dann das Gesicht ein.
Prustend und rot kam er hinter dem Schnee zum Vorschein: „Du bist ein ganz schönes Biest! Na warte!“Und nun hielt er sie fest und rieb seinerseits genüsslich ihr Gesicht mit der weißen Masse ein.
Ein alter Mann kam vorbei und grunzte wütend: „Das macht man nicht, wenn man stärker ist!“
Simon ignorierte ihn, aber er hielt mit dem Einseifen inne und ließ die japsende Lotte zu Luft kommen. Ihr Gesicht war rot und es tropften einzelne Tropfen herunter. Er bot ihr ein Taschentuch an und nahm dann die verstreuten Einkaufstüten in die Hand: „Frieden? Ich trag sie auch für dich.“
Anders als die meisten Mädchen war Lotte nicht nachtragend oder eingeschnappt. Sie hatte ihn, er hatte sie mit Schnee eingerieben. Das war nur gerecht gewesen, und so lachte sie nun: „Na, wenn du dafür meine Tüten trägst, hab ich mich gerne einseifen lassen.“
Schneller als beide es bemerkten, war der Abend vorbei. Gemeinsam gingen sie zum Bahnhof und stiegen in den nächsten Zug. Doch sie war zwei Stationen früher Zuhause und verabschiedete sich widerwillig von ihm.
„Gib mir doch am besten deine Telefonnummer.“
„Rufst du auch an, oder sagst du das nur?“
„Gäbe es einen Grund, nicht anzurufen?“
„Den gibt es bei einigen Jungs nicht und sie rufen trotzdem nicht an.“
„Glaubst du, ich habe mich so gut mit dir verstanden und das Röckchen bezahlt, um es nicht wiederzusehen?“
Sie wusste nicht, was sie glauben sollte. Sie wusste nur, dass es einer der schönsten Nachmittage in ihrem Leben gewesen war und dass sie Angst hatte, er könnte es nicht ebenso gesehen haben.
Sie reichte ihm einen Zettel mit ihrer Nummer. Er nahm ihn, beugte sich vor und küsste sie leicht auf den Mund: „Ich meld mich! Und du weißt ja, Silvester sind wir auf jeden Fall verabredet!“
Und danach waren dieser Nachmittag und dieser Abend beendet.