Singleweihnacht

1

Der Weihnachtsmarkt öffnet morgen. Und damit – und nicht mit den seit August im Warenbestand eines jeden Supermarktes vorhandenen Schokoweihnachtsmännern – startet die Weihnachtszeit. Wieder Weihnachten. Immer noch Single.

Jessie fährt sich mit den Fingern durch die Haare und seufzt. Ihre Lieblingszeit. Eigentlich. Aber doch nicht, wenn man seit drei Jahren alleine durch die Welt läuft und nur ab und zu irgendwelche Typen kennenlernt, die alle nicht der Mann fürs Leben sind. Hätte sie ihnen mehr Chancen als nur je ein Date geben sollen? Hatten sie mehrere Chancen verdient? Hätte es etwas geändert? Den einen konnte sie nicht riechen – bzw. sie roch ihn zu sehr; den anderen fand sie unattraktiv; den nächsten langweilig; den vierten zu sehr von sich selbst überzeugt; und den letzten? Tja, der wollte sie nicht wiedersehen.

Früher war es so viel einfacher Typen kennenzulernen und unter ihnen jemanden zu entdecken, mit dem man sich mehr vorstellen konnte. Nein, das ist vielleicht nicht richtig. Einfacher in dem eigentlichen Sinne war es nicht: Man musste sich aufbrezeln, in Discos gehen, gute Laune haben, lächeln, ein bisschen flirten, die Telefonnummer ausgeben und an einem der folgenden Tage eine oder zwei oder gar drei Stunden per Landleitung quasseln. Dann machte man ein Date aus und irgendwie … irgendwie lief es von da aus meist weiter. Aber heute? Da wird man angemailt auf tausend unterschiedlichen Wegen, wenn man sich zu tausend unterschiedlichen Social Network-Möglichkeiten angemeldet hat. Man bekommt die angeboten, deren Interessen (angeblich) zu den eigenen passen – zumindest wenn niemand diesbezüglich gelogen hat. Aber ehrlich, genauso vorstellbar ist doch, dass da so ein unentspannter Typ vor seinem Bildschirm sitzt und sich überlegt, was er braucht, um cool zu wirken. Und darum macht er sich zu einem, der Surfen und mit dem VW-Bulli durch die Welt cruisen epic findet, ohne jemals keinen Pauschalurlaub gebucht zu haben. Jessie rollt die Augen. Epic. Hatte doch tatsächlich ein angeblich 35jähriger bei ihrem ersten What’sApp-Kontakt gebraucht. Epic.

Oder war sie früher anspruchsloser, naiver, hinterfragte weniger? Würde sie das von sich behaupten, würde sie dann ihr jüngeres Selbst nicht runtermachen? Aber ja, wahrscheinlich ist da etwas dran. Wie sonst kann es sein, dass während der Schulzeit stets ein Schwarm den anderen abgelöst hat, und man manchmal zwischen mehreren wählen musste, sodass man einen Hauptschwarm hatte, den man soundsovielmal toller fand als den (oder die) anderen? Und sagen Jugendliche heute überhaupt noch „Schwarm“ dazu?

Nur noch diesen Abend hat sie die Stadt für sich alleine. Nur noch heute schieben sich keine Touris und auch keine angetrunkenen Afterworkler durch die Budengassen. Nur noch heute. Die nächsten Wochen muss sie Aachen teilen. Wie zum gefühlt hundertsten Mal in diesem Jahr: Weil Karlsjahr war und Heiligtumsfahrt und das Pferdeturnier CHIO und … Weihnachtsmarkt sein wird. Jessie kräuselt ein wenig angewidert die Nase, blickt mit bösem Blick auf den Hühnerdieb, als hätte der die Entscheidungen des Kulturdezernates zu verantworten, und wandert zum Hof herunter. In der Kneipe an der Ecke wird sie sich mit Lisa treffen – und sich betrinken. Gnadenlos betrinken. Und dann können sie einmal mehr über Männer und ihre zahlreichen Verfehlungen diesbezüglich quatschen, sich ein bisschen in die Ohren hineinjammern und sich gegenseitig sagen, wie toll sie sind. Und das sind sie. Ehrlich. Sie sind toll. Beide. Hübsch und sportlich und beruflich immerhin so erfolgreich, dass es zum Leben gut reicht. Und dennoch sind sie dreißig und Single.

Sie betritt die urige Kneipe, schiebt den schweren Vorhang zur Seite und plötzlich blitzt ein Erinnerungsfetzen auf: Warm und eng und ein bisschen stickig, aber sie selbst kühl mit roten Wangen, ein Mann vor ihr, seine Hand in ihrer, drängelt er sich durch die Menschen. Rauch erfüllte den Raum. Kneipenkultur auf dem Höhepunkt. Wilde Locken auf einem Kopf, der sich zu ihr beugt, ihr etwas ins Ohr sagen möchte, ihr Kopf, der sich ruckartig dreht, Münder, die aufeinander landen. Ein gemeinsames Lachen. Ein längeres Küssen. Alex.

Bevor die Fetzen zu einem Erinnerungsstrom fließen können, kommt Lisa und zieht sie nach der Begrüßung in die hintere Ecke der Kneipe, wo sie ab und an heimlich durch die Küche verschwinden und eine rauchen kann. Ja, das kann Lisa, weil sie nicht nur Bardame, sondern Kneipenchefin ist. Wozu so ein Magister in Soziologie mit Nebenfach Philosophie doch alles gut ist …

Lisa grinst: „Na, schon angepisst?“ Natürlich weiß sie genau, wie wenig ihre Freundin sich auf den Weihnachtsmarkttrubel in den kommenden fünf Wochen freut. Doch auch jeder, der Jessie nicht so gut kennt, hätte den Gesichtsausdruck einzuordnen gewusst: Jessie hat noch nie den Versuch unternommen (und wird ihn vermutlich auch nie unternehmen), ihre Gedanken zu verbergen. Das mag nicht immer hilfreich sein – aber es ist immer ehrlich. Vielleicht ist das ja auch ein Grund, aus dem es mit den Männer nicht mehr klappt?! Früher, als man ihre offene Art „unglaublich frech“ und ihre Koketterie „total süß“ fand, liefen die Typen ihr hinterher. Könnten sie es nun als einen Zustand der Verbitterung ansehen, weil eben kein Dauerlächeln ihre Lippen ziert? Jessie entscheidet sich für eine Antwort, die um einiges diplomatischer als ihre Mimik ist: „Ein bisschen hin- und hergerissen. Eigentlich freue ich mich irgendwie auf Weihnachten. Und ich habe mir vorgenommen, dass es dieses Jahr nicht so schnell vorbeigehen soll, wie im letzten, sondern ich es genießen will – mit Weihnachtsdeko und Adventskranz. Aber wenn ich andererseits an all das alkoholisierte Volk denke, durch das ich mich ab morgen auf dem Weg von der Arbeit nach Hause schieben müsste, wenn ich den normalen Weg nehmen würde, was ich dann aber nicht tue, dann …“, Jessie rümpft die Nase und ahmt ein Maschinengewehr nach.

„Aha. Wenigstens versteckst du deine Aggressionen nicht und wir können alle behaupten, du hättest immer schon zu Amokläufen geneigt.“

„Mensch Lisa, wenn nun morgen einer irgendwo wäre – was meinste, wie schlecht du dich fühlst, weil du wieder glaubst, mit deiner Intuition etwas heraufbeschworen zu haben?“

„Genau. Weil man keine Scherze über Sachen machen kann, bei denen Leute sterben.“

„Wo du dein Soziologiestudium hingesteckt hast, würd ich mal gern wissen …“, Jessie nippt an dem Bier, das Lisa ihr geordert hat und überlegt, ob Lisas schwarzer und manchmal unpassender Humor eventuell bei ihr etwas mit dem Männermangel zu tun haben könnte. Oder sind es die weniger angenehmen Arbeitszeiten? Oder dass sie sich mit so vielem herumschlagen muss, dass sie in manchen Dingen ihre hilflose Weiblichkeit eingebüßt hat? „Vielleicht ein Themenwechsel?“

„Du hast einfach keinen Humor”, murmelt Lisa. „Zumindest nicht deinen. Nicht immer“, Jessie beobachtet Lasse, den neuen Barkeeper, der fast schon zum Knuddeln wirkt, wie er da hinter der Theke mit den unterschiedlichen Biersorten und den dazugehörigen Gläsern jongliert, und alles durcheinander – und einiges auf den Boden – wirft. Es scheppert, doch Lisa rollt nur die Augen und fragt: „Wie war der Job?“

„Unaufregend. Ausnahmsweise“, Jessie grinst schief, weil ihre Arbeit im Dekanat der Philosophischen Fakultät selten in Hektik ausartet. Was gut ist, wirklich. Die wenigen Jahre, die sie sich als Reporterin verdingt hat, haben ihr gereicht: Wenn man seine Gesichtsmuskeln so wenig unter Kontrolle hat wie sie, kann man weder zu verstörenden noch zu langweiligen Sachen beordert werden, bei denen man direkten Menschenkontakt hat. Das grenzt die Themen der möglichen Berichterstattung doch sehr ein. Selbst beim Radio. Jetzt kommt das Geld pünktlich zum Monatsende, es ist der Arbeit vollkommen angemessen, Überstunden gibt es so gut wie keine, die Kollegen sind nett – wenn auch meistens weiblich. Aber der Chef ist ein Mann. Was nicht schlecht ist, um den Hühnerstall unter Kontrolle zu halten. (Das darf man natürlich in Zeiten der Forderung nach einer festen Frauenquote nicht laut sagen. Aber sollten doch mal die PolitikerInnen in einem Bereich mit neun Frauen arbeiten und sehen, ob sie sich keinen männlichen Chef wünschten …)

„Du kannst meinen haben.“ – „Wie oft haben wir das jetzt schon durchgespielt?“ – „He, das ist unser ganz persönlicher Running Gag.“ – „Ja, genau. Und wir lachen darüber immer wieder“, grummelt Jessie.

„Mann, was ist denn heute nur los mit dir?“ – „Nichts. Nichts anderes als sonst auch.“ – „Also weil du …“ – Doch Jessie unterbricht sie: „Eben dachte ich an Alex.“

„Oh. Da geh ich mal eine rauchen.“

Jessie nickt. Andere Freundinnen hätten geglaubt, sie wolle das Thema “Alex” wiederkäuen. Und andere Frauen hätten es sich vielleicht dementsprechend breiig und nach Galle müffelnd gewünscht. Aber Lisa versteht: Alles was man sagen kann, ist tausendfach gesagt. Alex gärt in den Tiefen der Vergangenheit. Manchmal steigt ein Hauch an die Oberfläche, in die Gegenwart, der daran erinnert, dass nicht alles stinkend und schlecht war, sondern dass die Zukunft mit ihm einst die köstlichsten Gerüche versprach.

Zu sechst waren sie gewesen in Unizeiten. Und alle hatten sie in in dem kleinen Café nahe der Hauptmensa gearbeitet: Lisa und Jessie vor allem als Kellnerinnen, Jule und Ralf hinter der Theke und Svenja und Alex in der Küche. Sie hatten den Laden geschmissen und Kohle ohne Ende rausgeholt, denn da sie alle etwas anderes studierten und viele ihrer Studienfreunde kamen, war es allabendlich eng und voll und lustig und … die beste Zeit. Außer Svenja hatten sie den Laden übernehmen und für immer dort arbeiten wollen. Sie hatten sich vorgestellt, eine Musikbar-Kette daraus zu machen, hatten Jule Designentwürfe zeichnen, Lisa Fragebogen zur Optimierung ihrer Ideen gestalten, Alex’ unterschiedliche Gerichte kreieren, Ralf mehrere Geschäftsmodelle entwerfen und Jessie verschiedene Marketingstrategien und Werbetexte austüffteln lassen. Und dann …

„Schon zurück“, Lisa lässt sich neben sie plumpsen, springt aber direkt auf, weil sie nicht mehr ignorieren kann, dass Lasse hinter der Theke absolut überfordert wirkt. Sie wird die nächsten Minuten damit beschäftigt sein, die aufgestauten Bestellungen und die unzufriedenen Gäste abzuarbeiten. Und obwohl Jessie versucht, ihr Gedächtnis abzuschließen, kriechen die Erinnerungen erneut in ihr hoch. Wieder erscheint Alex’ unordentlichen Lockenkopf vor ihr, spürt sie seine Hand an ihrer Wange und sieht in seine vor Lebenslust funkelnden Augen. Er reißt sie mit. Immer. Wenn sie schlechte Laune hat, reicht sein Anblick, um sie zum Lächeln, nein, … reichte sein Anblick, um ihr ein dämliches, mädchenhaftes Lächeln zu entlocken. Wie dumm sie damals war! Und so leichtgläubig! Als würde die Welt sich nur um Alex und sie drehen. Als würden sie alles gemeinsam schaffen. Als würden sie ihren Traum wahr machen. Als würden sie sich ewig … Verfluchtes L-Wort!

„Lasse! Noch ein Bier“, ruft sie und schiebt augenblicklich in zerknirschtem Tonfall hinterher: „Sorry. Bitte noch ein Bier.“ – „Ich kann dir auch was Stärkeres geben“, bietet Lasse an, der mit Lisas Hilfe die Kontrolle über das Chaos zurückerlangt hat. Ein paar Sekunden zögert sie, dann gibt sie klein bei: „Long Island Ice Tea.“ – „Einen doppelten oder soll ich die Cola weglassen?“ Und nun versteht Jessie, wieso Lisa Lasse nach zwei verkorksten Wochen noch nicht gefeuert hat: Weil er mit Menschen umgehen kann. Sie grinst: „Nee, aber die Eiswürfel.“ – „Kommt sofort.“

Einige Minuten später setzt Lisa ihr den Cocktail vor die Nase und stößt mit einem Tequila Sunrise an: „Auf unser verlängerten Wochenende.“ – „Das wir in Aachen verbringen werden.“ – „Müssen wir ja nicht. Willst du weg? …“ Und wie sie will! Weg! So ein wundervolles Wort! „… Wir könnten ja nach Berl … äh, nee, schlechte Wahl.“

Berlin. Wo Alex ist. Aber warum nicht? Die Wahrscheinlichkeit, ihn dort zu treffen, ist so winzig, dass sie so gut wie nicht vorhanden sein dürfte. Und sie mag Berlin. „Nein, gute Wahl. Lass uns morgen nach Berlin fahren.“

„Dann wird das mit dem Betrinken heute aber nichts, ne?“, Lisa zwinkert und will den Long Island Ice Tea wegnehmen, doch Jessie ist schneller: „Einer geht. Und zwei auch.“ – „Alkiline“, stänkert Lisa, und ist diejenige, die als erste nachbestellt.

2

Licht weckt sie. Uh. Viel zu hell. Wie kann das sein? Ende November und früh morgens schon so hell? Oder ist es gar nicht mehr so früh? Und wäre das nicht ein Problem, weil sie irgendetwas für heute geplant hat?

Jessie blinzelt gegen das Licht und entziffert mühsam die Digitalanzeige ihres Weckers. Kurz vor zehn. Hm. Und was war für heute geplant? Ach, verdammt! Berlin! Sie fischt nach ihrem Handy, das natürlich nicht griffbereit liegt, und schlägt das Plumeau … oder Plümmo nach angepasstester Rechtschreibung oder besser Federbett, um nur ja für alle verständlich zu sein. Aber: Welcher Film fährt gerade in ihrem Kopf? … jedenfalls schlägt sie das Plumeau zurück und tapst zu ihrer Handtasche. Zwei verpasste Anrufe und eine Nachricht von Lisa. Sie käme auch kaum aus dem Bett, schrieb sie um acht, und sie würde Berlin lieber verschieben. Schade eigentlich. Aber egal, wer von ihnen gefahren wäre, vermutlich hätte der Restalkohol im Blut zu Schwierigkeiten geführt.

Dodo, der einfach noch nicht verstanden hat, dass man am ersten Weihnachtsmarkttag, der noch dazu von Sonne und seltsamer Wärme gekrönt ist, ganz sicher nicht den Markt besuchen sollte, meldet sich am Mittag. Und weil er sich so gar nicht mit einem Nein abzufinden scheint, lässt Jessie sich breit schlagen und verabredet sich, ein bisschen gehässig lächelnd, aber das sieht er ja übers Handy nicht, um halb zehn abends mit ihm an der Apotheke am Markt.

Als sie dorthin geschlendert kommt, im Dunkeln der Nacht an den bereits geschlossenen Buden vorbei, muffelt Dodo zur Begrüßung: „Das ist nicht fair.“ – „Wenn du nach all den Jahren hier immer noch nicht weißt, dass der Markt um 21 Uhr schließt, kann ich dir auch nicht helfen, aber ist er nicht wunderschön?“, stichelt sie.

Er ignoriert ihre Frage: „Und wo kriegen wir jetzt den Glühwein her?“ – „Vermutlich in sämtlichen Kneipen der Pontstraße für weit weniger Geld“, sie nimmt ihn am Arm und zieht den Schmollenden die Straße hinunter. Natürlich waren die Kneipen und Cafés voll, aber in einer der urigen, etwas abgeranzteren Lokalitäten ergatterten sie einen Zweiertisch am Fenster.

„Wenn ich gestern nicht so viel getrunken hätte, wäre ich heute in Berlin“, erzählt Jessie und berichtet vom vorigen Abend. Doch während sie erzählt, bemerkt sie Dodos entsetzten Blick. Er starrt heraus. Und jemand starrt hinein. Alex.

Alex? Alex. Unverkennbar. Die Locken. Die Kakao-mit-eingerührter-Sahne-farbene Haut. Die vollen Lippen. Der schlacksige Körper in Kleidung, die nie ganz nach Jessies Geschmack ist. Langsam, ja, wie in Zeitlupe steht sie auf, schiebt das viel zu dünne Mädchen auf dem Stuhl vom Nachbartisch bei Seite und zieht die Türe auf. In dieser einen Sekunde zweifelt sie, ob sie überhaupt mit ihm reden will. Aber es ist Alex. Nach fünf Jahren zurück in Aachen. Wäre ich gestern nicht so voll gewesen, ich wäre heute in Berlin, denkt sie wieder. Dann wäre Alex hier und ich da – und wie ironisch …

Und als sie vor ihm steht, als keine Glasscheibe sie mehr trennt, riecht sie ihn: die ganz spezielle Alex-Mischung aus Seife und Deo und Rauch und Gewürzen und ihm. Ihre Augen sind fixiert auf seine. Doch sie sagt nichts. Er ist derjenige, der gegangen ist, er muss derjenige sein, der eine Brücke baut. Aber auch er schweigt und schaut nur. Und auf einmal fühlt Jessie die fünf Jahre, die sie älter als damals ist. Sie spürt ihren Rücken, der ihr seit zwei Jahren so viele Probleme macht, dass sie zweimal die Woche zur Gymnastik – neumodisch heißt das Pilates – geht; sie erinnert sich der grauen Haare am Scheitel (und der an den Schläfen, aber die sieht man nicht), die sie längst hatte färben wollen und sie erahnt die mangelnde Attraktivität, die sie nach einer durchgezechten Nacht ausstrahlt. Wieso konnte Alex nicht an einem der zahllosen anderen Tage zurückkommen, an denen sie noch so aussieht, dass Männer sich nach ihr umdrehen? Wieso heute, da sie sich in ihrem weiten Kapuzenpulli verkrochen hat? Und wieso sagt er eigentlich nichts?!

Das schiefe Alex-Lächeln kriecht über sein Gesicht, schiebt die Mundwinkel breit und hoch, plustert die Wangen auf und lässt die Augen zu blitzenden Schlitzen werden. Dann flüstert er: „Jessie“, und schließt sie in die Arme, die ihr so lange gefehlt haben. Obwohl sich ein kleiner Teil in ihr noch eine Weile wehren und ihn auch ganz gerne anbrüllen will, wo er denn gewesen ist all die Jahre, seufzt der größere Teil „Endlich“, schmiegt sich in Alex’ Körper hinein – – und die Welt verstummt.

Es war ein eher langweiliger Abend zu Beginn ihres dritten Semesters, als Jessie mit Lisa auf einer Uniparty war und ihr dort ein Typ auffiel, weil er beim Tanzen seinen Körper zu bewegen wusste. Das konnte kein Ingenieurstudent sein, auch kein künftiger Lehrer. Ob er Architektur studierte? Oder eher etwas Kreatives ohne feste Berufsaussichten? (Oder ob sie einfach mal all diese Vorurteile überwinden müsste?) Am liebsten wäre Jessie zu ihm rübergegangen und hätte ihn gefragt. Aber das hätte er sicherlich eher als schlechte Anmache verstanden, als als wirkliches Interesse. Tatsächlich war es genau das: Interesse an einem Kerl, der sich selbst vergessend zur Musik bewegen konnte und nicht einmal einen Becher Bier in der Hand hielt. (Demnach musste er nicht demonstrieren: „He, ich trinke, klar tanze ich dann auch. Und wenn ich scheiße aussehe, ist der Alkohol Schuld.“)

Und da er sie noch nicht einmal bemerkte, zu konzentriert war er auf die funkige Musik, lernte sie ihn nicht kennen.

Umso erstaunter war sie, als er nur ein oder zwei Wochen später im Balu auftauchte. Nein, natürlich waren seine ersten Worte nicht: „He, ich kenne dich doch irgendwoher.“ Stattdessen deutete er auf den Zettel im Fenster und meinte: „Hi, ich habe gesehen, ihr sucht wen für die Küche?“ Und so kam es, dass er im Balu anfing.

Über Wochen hatte Jessie jedes Mal, wenn sie zur Arbeit kam und wusste, dass sie dort auf ihn treffen würde, ein flaues Gefühl im Magen. Denn sie spürte, dass Alex sie nicht mochte. Nein, das ist vielleicht zu hart gesagt: Vielmehr wirkte er gleichgültig ihr gegenüber und sie hatte den Eindruck, er fände sie langweilig. Und es ärgerte sie: Dass er das von ihr glaubte und dass sie scheinbar unfähig war, ihm das Gegenteil zu beweisen.

Tatsächlich war sie ja wirklich kein Wirbelwind wie Lisa, immer mit einem Lächeln auf den Lippen, oder auch nur im Entferntesten so flirtbegabt wie Svenja. Sie gehörte eher zu den etwas zurückhaltenden, passiven Menschen, die eine Zeitlang benötigten, um mit anderen warm zu werden, und die stetig vorsichtiger werden, wenn sie bemerken, dass die Gegenseite keine Anstalten macht, die Bekanntschaft zu vertiefen. Aber langweilig – nein, das war sie nicht. Bestimmt nicht. Oder etwa doch?

So sprachen Alex und sie die ersten Wochen nur das Allernötigste miteinander: „Tisch 2 wartet auf die Lasagne.“ – „Braucht noch fünf Minuten.“ – „Was steht als Vorspeise auf der Tageskarte?“ – „Lachsrollen.“ – „Kaufst du mir schnell noch ein paar Liter Sahne?“ – „Hab ich nicht genug zu tun?“ – „Essen für Tisch 7 ist fertig.“ – „Endlich.“ – Und ja, oft reagierte Jessie, vor allem wegen ihrer Unsicherheit, kratzbürstiger, als es bei Svenjas und ihren ähnlichen Küchenkonversationen der Fall war.

Einmal standen sie während der Weihnachtszeit nach Kassensturz noch in der Küche: Lisa, Svenja, Ralf, Alex und Jessie. Und Alex fragte in die Runde hinein: „Was haltet ihr davon, wenn wir morgen mal gemeinsam auf den Weihnachtsmarkt gehen? Ist unser freier Abend.“ Jessie hätte schwören können, dass er dabei vor allem Svenja ansah, und schloss daraus, dass sie es war, die er eigentlich fragte. (Und ja, es wurmte sie: Die kleine Raupe Nimmsatt fraß sich durch ihr Herz und veranstaltete Chaos.)

Lisa grinste breit und völlig arglos: „Find ich gut. So haben wir wenigstens auch was davon. Jessie?“ – Die zuckte die Achseln: „Weiß nicht. Bin nicht so ein Freund vom Tourigeschubse.“ – „Mensch, Jessie“, Alex rollte die Augen, „sei doch nicht immer so negativ.“

Nun war es heraus, war es offensichtlich, musste es für alle deutlich sein: In seinen Augen war sie nicht nur langweilig, sondern er hatte sie in eine Schublade mit der Beschriftung „Negativer Mensch“ gesteckt. Und das war doch noch schlimmer, oder?! Oh je! War sie das etwa? Negativ? In ihrem Hirn ließ sich diese Fremdwahrnehmung kein Bisschen mit ihrem eigenen Selbstbild in Einklang bringen. Sei nicht immer so negativ. Nein, lieber mochte er sicher Mädels, die dauernd lächelten oder hilflos wirkten oder zuckersüß waren oder … Verdammt, wieso zogen sich jetzt ihre Nasenflügel so zusammen, dass sie kaum noch Luft bekam? Sie würde doch nicht heulen? Sicher nicht?

Zum Glück sprang Ralf ihr bei, erlöste sie von weiteren Gedankengängen und gab ihr Zeit, die hochwallenden Tränen der Wut oder die der Enttäuschung hinunter zu befehlen: „Sie hat ja Recht. Ich hab’ da auch nicht so Bock drauf. Aber dass wir mal was gemeinsam machen könnten, finde ich schon. Wie wär’s mit einer Abstimmung? Wegen Demokratie und so.“ Überraschendes Ergebnis: 3:2 für den Weihnachtsmarkt.

11 Gedanken zu “Singleweihnacht

  1. Gefällt mir sehr gut. Ich bin schon gespannt auf weitere Kapitel und was denn nun passiert ist zwischen Jessie und Alex …
    (Und natürlich wie es mit den beiden nun weiter geht 😉 )
    Mach weiter so!

  2. xSunny93

    Hey =) Dein Schreibstil ist echt toll. Kann man einfach gut runterlesen. Und dein Blog ist auch irgendwie cool, werde jetzt öfter mal vorbei schauen. Lg =)

    1. Hm, ja, das war mal so vorgesehen, als ich die Geschichte vor zweieinhalb Jahren als Adventskalenderstory begann. Aber dann fehlte der Drive.
      Sie gefällt also soweit? 😉
      Vielleicht sollte ich mit deinen Tipps weiterschreiben – und dann veröffentlichen wir sie Weihnachten …

      1. Ja sehr sogar ! Ich war wirklich dabei und hätte gerne weiter gelesen 🙂
        Ist das Ironie mit den Tipps?
        Ansonsten würde sich das nämlich eher in Richtung Drama weiterentwickeln 😀 😉

      2. Nein, keine Ironie. Vielleicht brauche ich ein bisschen Antrieb, um es weiterzuschreiben. Es muss ja irgendeinen Grund geben, aus dem er weggegangen ist. Eigentlich hatte ich gemeint, ich hätte die Geschichte schon irgendwo weitergeschrieben und hätte in Svenja einen Auslöser für den Weggang fabriziert, aber ich finde die Fortführung nicht mehr.

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