Räuber

Vorspann

Es war früher dunkel geworden, als sie es gedacht hätte. Sie zog die Jacke enger um sich… Und es war viel kälter, als es heute Morgen ausgesehen hatte. Denn eigentlich war sie von der Herbstsonne geweckt worden. Wie man sich täuschen kann.

Sie beschleunigte ihre Schritte. Zum einen, damit ihr wärmer wurde und zum anderen, weil ihr die Dunkelheit nicht ganz geheuer war. Außerdem wollte sie schnell nach Hause, weil sie den Anruf von Marius erwartet, ihrem Freund. Und sie hatte Hunger. Viele Gründe, die Schritte rascher hintereinander zu setzen.

Sie bog aus der Altstadt auf eine belebte Geschäftsstraße ein, musterte die Schaufenster und ihr Spiegelbild darin, ehe sie wieder in eine kleinere Straße einbog. Wieder schauderte sie leicht und legte noch ein bisschen Geschwindigkeit zu.

Plötzlich hörte sie Schritte vor und hinter sich und aus einer Nische sprangen drei Gestalten heraus. Sie erkannte nicht mehr als die schemenhaften Statuen und blieb erschrocken stehen.

Schnell war sie von allen Seiten umzingelt. Es waren sechs dunkle Wesen, wahrscheinlich männlichen Geschlechts, genau erkennen konnte sie es nicht, denn alle hatten Kapuzen oder Mützen bis tief über die Augen gezogen und auch die Mundpartie war vermummt.

„Scheiße“, fluchte sie, und erntete damit raues Gelächter.

„Das kannst du wohl laut sagen.“

„Lauter will ich nicht reden, denn sonst mache ich ja euren Raubzug kaputt“, entgegnete sie. Obwohl ihr nicht nach Spott zumute war, konnte sie doch ihren Mund nicht halten. Sie checkte ihre Chancen ab, aber gegen eine Übermacht von sechs konnte sie nichts ausrichten. Und schnell laufen konnte sie leider auch nicht. Im Grunde hatten sie sich ein gutes Opfer in ihr ausgesucht: Unsportlich, langsam und ohne irgendwelche Kampferfahrungen.

„Frech wirst du auch noch.“

„Das kann man sehen wie man will. Ich kann euch aber ein bisschen was erzählen…“

Ein Messer schnappte auf: „Und was genau, du Schlampe?“

„Es gibt zwei Möglichkeiten, wegen denen ihr mich aufgehalten habt: Einmal könnte es sein, dass ihr mich ausrauben wollt. Das könnt ihr euch sparen. Ich habe noch 25 Euro auf dem Konto und in meinem Portemonnaie sind fünf Euro sechzig. Die kann ich euch gerne geben. Wenn ihr mein Handy haben wollt, macht euch auf ein altes Gerät gefasst… Und ansonsten? Meinen Schlüssel könntet ihr haben, aber ich wohne nicht hier, bin auf dem Weg zu einer Freundin. Oder aber ihr könntet mich vergewaltigen wollen. Dann hättet ihr euch allerdings eine schlechte Stelle ausgesucht.“

Einer der Vermummten gluckste und schien ein herzlicheres Lachen zu unterdrücken. Er stellte sich vor sie, damit er ihr genau in die Augen sehen konnte. Und sah sie lange an. Gefühlte Stunden. Etwas in ihr kribbelte. Nachdem er seine Begutachtung abgeschlossen hatte, während der sie sich fast in die Hose geschissen hätte, sagte er ruhig: „Wusste ich’s doch. Ich kenne sie. Lasst uns gehen“, dann gab er den anderen einen Wink und sie verschwanden so schnell, wie sie gekommen waren.

Sie atmete erleichtert auf und setzte dann den Weg nach Hause fort. Denn natürlich hatte sie geblufft und wohnte hier.

Endlich Zuhause ließ sie sich auf ihr Bett fallen und fühlte, dass ihr Puls auch jetzt noch raste. Nur wenige Minuten später klingelte das Telefon, aber sie nahm nicht ab. Stattdessen rollte sie sich auf die Seite und schloss die Augen. Wahrscheinlich hätte sie sich mit ihrer vorlauten Klappe um den Kopf geredet, wenn nicht einer bei den Vermummten dabei gewesen wäre, der … Ja, der was? Hatte er nur ihre Ironie verstanden, hatte sie ihm nur Leid getan, oder kannte er sie wirklich? Das einzige, was sie von ihm gesehen hatte, waren seine Augen gewesen. Sie rief sie sich ins Gedächtnis und sah Intelligenz und Humor aus ihnen herausleuchten. Sie sah die kleinen Lachfältchen in den Augenwinkeln und, ja, wenn sie sich nicht ganz getäuscht hatte, dann hatte sie auch Wärme in diesen Augen gesehen, kurz bevor er das Inspizieren abgeschlossen hatte. Tatsächlich, wenn sie sich daran erinnerte, dann schien ihr auf einmal klar, dass ein Erkennen in diesem Augenblick durch ihn gefahren war. Er hatte sie wirklich erkannt. Und wenn er sie kannte, dann kann sie ihn wahrscheinlich auch. Aber woher? Wer sollte er sein? Soweit sie wusste hatte sie keinen Räuber oder Vergewaltiger, oder was auch immer er war, in ihrem Bekanntenkreis.

Eine halbe Stunde später klingelte ihr Telefon erneut. Sie nahm ab: „Hi Marius.“ – „Nein, nicht Marius. Es tut mir Leid wegen eben. Hätte ich dich sofort erkannt, dann…“ – Oh Gott, es war der Anführer der Vermummten: „Ähm…“

„Eben warst du sprachgewandter. Ist auch egal. Ich wollte mich entschuldigen, wegen dem Schrecken, den wir dir eingejagt haben. Und ich wollte dir zeigen, dass du mich nicht reinlegen kannst: Du wohnst hier. Übrigens: Es war schön, dich wiederzusehen“, damit legte er auf.

Das konnte doch nicht wahr sein. War das eine heimliche Drohung, oder was? Oder hatte er sich wirklich entschuldigen wollen? Viel schlimmer war etwas anderes. Sie kannte die Stimme. Sie wusste ganz genau, dass sie sie kannte, dass sie in ihrem Leben eine Rolle gespielt hatte. Eine große Rolle. Noch bevor sie seinen Namen fassen konnte, begann ihr Telefon wieder zu schellen. Zögernd nahm sie ab: „Ja?“

„Hier ist Marius.“ – „Marius, hi.“ – „Was ist denn los? Du klingst so anders…“, es erschreckte sie manchmal, wie genau er jede Nuance ihres Tons bei der minimalsten Silbenanzahl unterscheiden und einordnen konnte.

Sie erzählte es ihm. Aber sie änderte das Ende ein wenig ab. Irgendetwas hielt sie davon zurück, Marius anzuvertrauen, dass der Raub unterbrochen worden war, weil einer der Idioten sie erkannt hatte. Stattdessen berichtete sie, ein Auto sei gekommen und die Bande sei deswegen abgerückt.

„Na, da bist du ja noch einmal mit dem Schrecken davon gekommen. Ich hoffe, du weißt in Zukunft, dass du nicht durch die dunkelsten Straßen gehen sollst, nur um den Weg drei Minuten abzukürzen.“ Grrrr. Wieso hörte er sich wie ihre Mutter an? Sie beendete das Gespräch so rasch wie möglich, zog sich um, wusch sich, putzte die Zähne und hüpfte in ihr Bett. Es war gar nicht so sehr die eigentliche Aktion, die ihr zu schaffen machte, sondern der bekannte Fremde.

Mitten in der Nacht erwachte sie. Sie hatte geträumt. Von ihm. Vor einigen Jahren, hatte es jemanden in ihrem Leben gegeben, der ihr mehr bedeutet hatte als irgendwer sonst. Er hatte über allem gestanden und war derjenige gewesen, von dem sie sich nicht nur geistig, sondern auch körperlich angezogen gefühlt hatte. Sie hatte immer bei ihm sein wollen. Sie wollte ihn küssen, sie wollte mit ihm reden, sie wollte alles. Vorher und nachher hatte sie nie mehr ein solches Gefühl gehabt. Dieser Jemand hatte das aus unerfindlichen Gründen anders gesehen. Und dieser Jemand war er. Der Räuber. Der Arsch, der Räuber.

Mit offenen Augen lag sie im Bett, starrte an die Decke und Tränen liefen ihr über das Gesicht, ohne dass sie es merkte. Sie erinnerte sich. Wie hatte sie ihn nicht sofort zuordnen können? Wie war das möglich? War es die Angst gewesen? Hatte er sich so verändert? Und dieses Zucken in seinen Augen, diese Wärme, die kurz und plötzlich von ihnen ausgegangen war, hatte sie sich die eingebildet? Und dann auch noch der Anruf. Was sollte das? Nun, wenigstens hieß das, dass er sich noch ihres vollen Namens hatte entsinnen können. Wenigstens etwas, hm?

Jetzt, nachdem sie wusste, wer er war, wusste sie auch, dass es keineswegs ein Drohanruf gewesen war.

Ja, sie erinnerte sich.

Weitere Texte zu „Räuber“ auf Anfrage.

14 Gedanken zu “Räuber

      1. Wenn du in der Leiste auf „Räuber“ gehst, öffnet sich rechts daneben „Räuber 1“. Wenn du magst, kannst du da noch weiter lesen. Setze einfach einen Kommentar drunter, wenn dich auch der weitere Fortgang interessiert.
        Lieber Gruß!

      2. OK, Räuber 2 ist auch online. Ein etwas längerer Abschnitt. Auch hier gilt das gleiche. Fortsetzungswunsch oder Anmerkung wieder drunter setzen. Lieber Gruß!

      3. Ich versuche, dran zu denken 🙂 Wenn ich’s bis morgen abend nicht gemacht habe und du dran denkst, kannst du mich noch mal dran erinnern 😉

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