Die ganze kommende Woche waren ihre Gedanken immer wieder zu Simon, dem Poesiealbumjungen, zurückgekehrt. Sie wünschte sich, sie wäre ihm nie begegnet. Sie wünschte es sich. Bestimmt. Aber irgendetwas zog sie am Freitag zur gleichen langweiligen Disco. Sie musste ihn wiedersehen.
Tascha begleitete sie und motzte im Discobus: „Mensch, ich hab echt keinen Bock mehr auf dieses Rumgegurke durch die ganzen Käffer. Es wird Zeit, dass ich den Führerschein kriege.“
„Noch einen Monat“, beschwichtigte Lotte sie.
„Ja. Aber das heißt noch nicht…“
„… dass du dann einen Wagen hast. Ich weiß. Du musst halt weniger einkaufen gehen. Dann würdest du das Geld für einen kleinen alten Wagen schnell zusammen bekommen.“
„Ja, wenn…“
„Du bist selbst Schuld, dass du zu klamottengeil bist, um zu sparen. Aber dafür siehst du ja auch immer gut aus“, Lotte war äußerst ehrlich, geradeaus und unbeeindruckt. Es machte ihr nichts aus, dass sie ältere Klamotten in ihrem Schrank hatte als Tascha. Dafür würde sie sich in zwei Monaten, unmittelbar nach ihrem Geburtstag einen Wagen leisten können. Denn sie hatte gespart.
In der Disco haute Tascha bald in den Nebenraum ab und Lotte verkroch sich eine Weile in den HipHop-Keller. Sie starrte auf die Tanzfläche: Was genau wollte sie eigentlich hier? Sie hatte keine Ahnung. Dieser Typ, dieser Simon, er hatte eine Freundin. Ziemlich offensichtlich hatte er ihre Bekanntschaft nicht vertiefen wollen… Sonst wäre er ja nicht so schnell abgetaucht…
Jemand piekste sie in die Seite: „Na? Standort gewechselt?“
Ihr Herz schlug bis zum Hals: ‚Ruhig, Lotte, ruhig…‘, sie wandte den Kopf langsam in seine Richtung.
„Charlotte?! Kannst du noch reden? Mein Anblick muss dir nicht gleich die Sprache verschlagen. Weißt du, ich hab letzte Woche in meinem Poesiealbum nachgesehen. Hattest du auch auf der letzten Seite stehen ‚Hier hinten habe ich mich angewurzelt, damit niemand aus deinem Album purzelt‘? Das hat mir Ines geschrieben. Wenn ich es mir richtig überlege, dann war das Poesiealbum immer eine ziemlich gute Anmache damals. Da ging man einfach zu einem Mädchen und fragte sie: ‚Willst du in mein Poesiealbum schreiben?‘ Eigentlich ziemlich locker, oder? Willst du in mein Poesiealbum schreiben?“
Sie musterte ihn ganz ruhig, hatte ihre Fassung wiedergefunden: „Ich hab auch noch einmal in meinem Poesiealbum nachgesehen. Da stand doch tatsächlich ‚Gut denken ist besser als viel reden‘.“
„Tatsächlich?“, er grinste sein warmes Grinsen, das sein Gesicht anziehend machte, und seine Lippen sowieso: „Ist ja Wahnsinn, dass wir beide den gleichen Gedanken hatten, und in den Poesiealben rumgekramt haben. Sollen wir sie mal austauschen?“
„Die Poesiealben?“
„Was denn sonst? Die Telefonnummern wohl kaum, dann würde meine Freundin mir an den Hals springen. Das muss ja nicht sein.“
„Und wie sollen wir sie sonst austauschen?“
„Indem wir sie nächste Woche mitbringen.“
„Ich…“, es passierte nicht allzu oft, dass ihr die Worte fehlten. Aber dieser Typ brachte sie um den Verstand. Er war so kindisch, so ehrlich und so albern. Und trotzdem wollte sie ihn so unendlich, obwohl sie ihn doch insgesamt nicht mehr als vielleicht fünfzehn Minuten, wenn es hochkam, kannte.
„Charlotte?“
„Meine Oma nennt mich nur so.“
„Aber Charlotte hört sich besser an, als dieses ‚Lotte‘. Deine Eltern sind bestimmt Studierte, oder?“
„Ja. Wieso?“
„Lotte ist so ein typischer Name, den Studenten ihren Kindern geben.“
„Echt, du bist… schlau.“
„Ja, ich weiß.“
„Und sonst?“
„Ich bin sonst ein ziemlich geiler Typ… Ach, und wegen dem Spruch letzte Woche, von wegen du findest, ich seh scheiße aus, das habe ich dir verziehen.“
„Simon“, setzte Lotte an: „Hast du viel getrunken?“
„Das Übliche.“
„So?“
„Vier Liter oder noch nen halben mehr. Wir treffen uns immer draußen vor der Disco, sitzen noch ein bisschen im Auto. Und zwischendurch gehen wir auch noch was da trinken. Nen Kasten schaffen wir immer zu zweit.“
„Du und deine Freundin?“
„Quatsch. Die macht so was nicht mit. Ist auf jeden Fall billiger, als sich hier die Kante zu geben.“
„Wir trinken im Discobus.“
„Aber nicht viel, hm? Ich glaub kaum, dass du betrunken bist. Obwohl du fast so viel Mist redest wie ich“, er grinste breit und sah ihr unverwandt in die Augen.
Das nahm ihr jede Möglichkeit zu kontern und sie stotterte: „Ich… Ich kann nicht mit dir reden.“
„Du findest mich anziehend, hm?“
Sie sah ihn offen an: „Das weißt du ganz genau.“
„Ich dich auch“, er zuckte mit den Schultern: „Da kann man nichts machen…“, und ließ sie stehen.
Nur eine Sekunde, nachdem er sie alleine gelassen hatte, hatte sie das Gefühl, dass ihr etwas fehlte. Sie machte sich über sich selbst und diesen kitschigen Gedanken lustig, aber sie konnte doch nichts an ihm ändern. Ein bisschen wütend auf sich selbst, aber noch viel mehr auf Simon, und doch irgendwie glücklich (immerhin leugnete er die Anziehung ja nicht), ging sie zur Toilette. Während sie auf die nächste Freie warten musste, sah sie sich im Spiegel an: Hm, eigentlich gefiel sie sich selbst ganz gut…. Ein Klo wurde frei und sie unterbrach die kurze Betrachtung.
Zurück im Discoraum suchte sie Tascha, doch als sie sie von weitem sah und auch den Jungen bei ihr, hielt sie inne. Was sollte sie sich zwischen ihre Freundin und ihren neuen Bekannten drängen? Also drehte sie eine Runde durch alle drei Räume. Sie musste unweigerlich an Simon vorbei, der natürlich seine Freundin im Arm hielt. Gerade in diesem Moment biss sie ihn in den Hals. Aber anstatt dass er reagierte, grinste er Lotte – oder Charlotte – an. Lotte sah schnell weg. Er verwirrte sie, und das hatte sonst noch niemand geschafft. Immer war sie diejenige mit dem flotten Mundwerk, mit den spöttischen Sprüchen, mit dem Charme gewesen, immer hatte sie es geschafft, die Jungs zu interessieren. Und nun? Nun interessierte sie sich für einen Jungen, der zwar Charme besaß, aber von gutem Aussehen Meilen entfernt war. Und wie weit… Aussehen ist eben nicht alles … Leider, sonst hätte sie ja nicht bei ihm landen können.
Abseits von allem stellte sie sich in den Technoraum, in dem gerade House lief und hörte sich die ihr verhassten Klänge an. Eher beiläufig registrierte sie, dass Tascha knutschend mit dem Typen von eben in einer Ecke stand. Nun ja, da würden sie sich im Discobus ja einiges zu erzählen haben. Allerdings von Simon, von dem wollte sie lieber noch nichts erzählen. Das war die kurze Unterhaltung von eben echt nicht wert… Wie auch immer.
Sie lehnte an der Theke und versuchte, penetranten Blicken auszuweichen. Doch einer der größeren Idioten fasste sich trotzdem ein Herz und sprach sie an. Nun gehörte Lotte nicht zu den Menschen, die hartherzig jeden Annäherungsversuch abschlugen und ließ sich bereitwillig zu einem Bier einladen. Und danach zu einem Batida-Kirsch.
Erstaunlicherweise unterhielt sie sich mit dem zwar recht hübschen, aber uninteressanten Typen eine ganze Weile, ohne dass Langeweile aufkam. Doch wie die Male vorher, tauchte Simon plötzlich aus dem Nichts neben ihr auf: „Schwesterchen, endlich habe ich dich gefunden…“
„Ehe ich deine Schwester werden würde, würde ich dich umbringen“, zischte sie.
„Na, na… Zuviel getrunken?“
Sie wandte sich mit einem Schulterzucken zu dem anderen Typen um: „Keine Ahnung, was der will. Den kenne ich nicht.“
Das jedoch konnte Simon nicht auf sich sitzen lassen: „Charlotte! Musst du in die Anstalt zurück?“
„Ist das dein Ex?“wollte der Typ wissen.
Erfreut nickte sie: „Ja, genau. Ich habe letzte Woche Schluss gemacht und na ja… Anscheinend verkraftet er das nicht.“
„Kann ich verstehen.“
„Ja, ich auch“, flötete Simon und grinste: „So wie ich verstehe, dass sie dich nur ausnimmt… Wieviel hast du ihr schon ausgegeben?“
„Simon?!“
Der Typ wurde rot: „So ein Quatsch. Guck dich doch mal an.“
„Na? Was denn? Gefällt dir meine weite Hose nicht?“
„Nein, dein Gesicht…“, und klatsch, so schnell hatte Simon eine Faust kurzzeitig auf seinem Auge hängen. Erschrocken stand Lotte daneben und wunderte sich: So gewalttätig hätte sie den Typen gar nicht eingeschätzt. Er sah nicht aus wie ein Schläger, eher wie ein Bauer. Oder war das im Endeffekt dasselbe?
Zwei Securitys kamen. Sie kannten den Typen offensichtlich, da sie ihn drin ließen, während sie nur Simon rausschleiften. Geistesgegenwärtig ließ Lotte sich an der Theke Eis in ein Tuch wickeln und rannte Simon nach.
Sich sein Auge zuhaltend saß er vor der Disco und murmelte: „Jetzt habe ich Hausverbot wegen dir…“
„Manche Leute verstehen keinen Spaß.“
„Offensichtlich.“
„Hier“, sie hielt ihm das Eis hin.
„Danke.“
Sie musterte ihn.
„Was ist?“
„Wieso bist du so dumm angekommen?“
„Konnte ich wissen, was für Lackaffen du kennst?“
„Ich kenne ihn erst seit heute.“
„Dann belass es besser dabei. Jetzt weißt du, was das für einer ist.“
„Und genau das hast du mir zeigen wollen?“sie erhielt keine Antwort: „Ja? Hast du das sofort gesehen und bist deswegen dazwischen gegangen?“
Simon schwieg weiter. Sein Schweigen gefiel ihr nicht. Mit diesem Schlag hatte er sich gewandelt, war nicht mehr locker, sondern verkrampft. Vielleicht oder eigentlich mag das verständlich sein, bloß… Sie kannte ihn kaum wieder. Es war nicht mal Wut oder Zorn in seinem Gesicht, sondern etwas Stures, das ihn ein wenig wie einen kleinen Jungen aussehen ließ, und das wiederum machte sein Gesicht seltsam weich und anziehend.
„Simon? Soll ich deine Freundin suchen?“
„Bloß nicht. Soll ich ihr sagen, dass ich wegen dir geschlagen worden bin?“
„Das müssen wir ja nicht sagen.“
„Was sonst? Dass ich hingefallen bin, wird sie mir wohl kaum glauben“, er befühlte sein Auge: „Dick, oder?“
Sie nickte: „Kannst du dich nicht einfach so mit einem Typen geschlagen haben?“
„Das glaubt sie mir nicht.“
„Wie lange seid ihr zusammen?“
„Sechs Wochen.“
Ihr fiel ein Stein vom Herzen: Erst so kurz. Doch sie ließ es sich nicht anmerken: „Sie wird dir eben vertrauen müssen.“
„Ich glaub, dass ist nicht wichtig.“
„Wie?“
„Frauen kommen, Frauen gehen. Wieso sich Probleme machen? Ich sage ihr die Wahrheit.“
„Und die wäre?“
„Ich habe einen brutalen Typen falsch von der Seite angemacht, weil ich nicht wollte, dass er mit dir redet und sich an dich ranschmeißt.“
„Na, das wird sie freuen.“
Er sah sie resignierend an: „Ist doch egal. Es ist die Wahrheit. Was sie freut und was nicht, liegt nicht in meinem Gebiet. Freuen würde sie die Lüge, dass es für sie war. So war es aber nicht.“
„Lügst du nie?“
„Wieso sollte ich denn? Was bringt es einem, wenn man sich verstellt? Damit kann man mehr verletzen als mit der Wahrheit.“
„Manchmal kann es aber auch Dinge erleichtern.“
„Nur, wenn man zu feige ist. Ich bin nicht feige“, er stand auf: „Sorry.“
„Was?“
„Dass du hier bei mir in der Kälte gewartet hast.“
„Das habe ich gern gemacht.“
„Ja, ich weiß“, er wollte sich umdrehen und gehen.
„Du hast Hausverbot“, erinnerte sie ihn.
„Ach ja, schon wieder. Scheiße…“
„Ich geh schon.“
„Ironie“, murrte er: „Ich lass mich schlagen – wegen dir, und dann holst du meine Freundin, damit ich mit ihr Schluss mache. So was Bescheuertes.“
Sie ließ ihn alleine, nur ungern, aber sie ging. Es war bestimmt keine tolle Aufgabe. Auch wenn sie sich gewünscht hatte, er würde solo sein, so war es doch unangenehm, das andere Mädchen ins Messer laufen zu lassen. Doch das war eine Sache zwischen den Beiden.
Hier kommt die Erinnerung;)
3 ist online 😉
Super danke:)