Der Ungebundene II

„Isa!“, rief er, noch bevor er die Tür ganz geöffnet hatte und ausgestiegen war, und dann, als er stand – den Türrahmen als Stütze nutzend – noch einmal: „Isa!“ Sie wandte sich zu ihm um, dann schlenderte sie langsam zu einer Bank und hockte sich auf ihre Lehne. Und ein drittes Mal: „Isa!“

Aber sie reagierte nicht.

Er knallte die Türe so fest zu, dass der Corsa wackelte und stapfte mit den Händen in der Tasche zu ihr hin: „Isa! Du kannst mich nicht einfach nach hier entführen.“ – „Warum nicht?“ – „Weil ich Sachen vorhabe.“ – „Nichts wichtiges.“ – „Woher willst du das wissen?” – „Das hast du mir gestern beim Telefonat gesagt. Und Kai kannst du immer noch absagen. Außerdem warst du dir eh unsicher, ob du heute wieder rausgehen sollst.“ – Verdammt. Wieso sagte er ihr eigentlich immer alles? „Trotzdem. Was soll ich hier?“

Sie tippte mit ihrer Hand auf den Platz neben sich und er hievte sich widerwillig neben sie auf die Lehne. Dann deutete sie aufs Meer: „Schön, oder?“ – „Man sieht nicht viel.“ – „Aber man kann es hören.“ Und er schwieg und lauschte. Ja, die Atlantikwellen, die auf den Strand schlugen, hörte man deutlich. Aber ansonsten war es still. Noch keine Möwen, noch keine Autos, noch keine Menschen.

„Und du brauchst das Meer.“ – „Wozu? Ich habe es nicht vermisst. Wieso soll ich es dann brauchen?“ – Er wusste, dass sie ein Meerkind war, dass ihr es fehlte, wenn sie kein Meer um sich hatte, dass sie der Meinung war, ihr ganzer Körper bräuchte das Meer, weil es ihre Haut verbesserte, weil es sie zum Schwimmen animierte, weil es ihr beim Atmen half. Er selbst hatte so etwas nie empfunden. Natürlich, das Meer war angenehm. Aber sein letzter wirklicher Urlaub am Meer war Jahre her. Mit seiner Exfreundin, mit Susanne. Fünf Jahre? Ja, so ungefähr.

„Hast du dich in letzter Zeit mal im Spiegel angesehen?“ – Er: „Erst letzte Nacht, als ich mir die Haare gemacht habe.“ – „Und?“ – „Was und?“

Sie drehte ihm ihr Gesicht zu und sah ihn so lange schweigend an, bis es ihm unangenehm wurde und er seine Frage wiederholte. Da sagte sie leise: „Ich habe mich erschrocken. Es gibt diese neuen Fotos von dir im Netz. Schrecklich. Die von diesem Festival, auf dem du letztes Wochenende warst. Du warst erst gerade aus dem Urlaub zurück, du hättest einigermaßen erholt aussehen müssen, stattdessen hast du noch nie so schlecht ausgesehen.“ Sie kramte in ihrer Handtasche herum und förderte einen kleinen Taschenspiegel zutage, den sie ihm vor die Nase hielt.

„Was?“ – „Guck dich an.“ – „Ich brauch mich nicht ansehen, ich weiß selbst, dass ich heute Morgen scheiße aussehe. Und weißt du, woran das liegt? Daran, dass du mich nicht hast schlafen lassen.“

„So wie du vor dem Festival nicht schlafen konntest oder im Urlaub? Selbst auf deinen Urlaubsfotos hast du Furchen unter den Augen, Fältchen um die Mundwinkel, gräuliche Haut, einen müden Blick. Und viel zu dünn bist du auch. Du brauchst …“ – „Was? Ne Frau, die auf mich aufpasst?“ – Er erkannte, dass sie beinahe genickt hätte und sich nur in letzter Sekunde zurückhalten konnte. Sie verschluckte ihre Zustimmung und sagte stattdessen: „… Entspannung.“

Ehrlich, dagegen konnte er nichts einwenden. Entspannung war das, wonach er sich am meisten sehnte. Und wovor er den größten Schiss hatte. Entspannung bedeutete Stillstand, bedeutete mit seinen Gedanken alleine sein. Und er wusste nicht, wohin ihn diese führen würde. Lieber viel Stress und keine zu intensiven Gedanken. Nach zu vielen Gedanken würde er zu viele Entscheidungen treffen müssen.

„Wenn du so weiter machst, wirst du in zwei Jahren nen Burnout haben. Und warum? Weil du zu feige bist, dir das zu nehmen, was dein Körper braucht. Der braucht keine Dauerpartys, keinen Alkohol zwei- oder dreimal die Woche, keine Nächte auf Festivals und in Zelten, keine Konzertbesuche alle zwei Wochen, keinen Sport dreimal in der Woche, keinen täglichen Jobmarathon, keine dauernd Internetpräsenz. Manchmal braucht der auch einfach nur Ruhe. Aber du hast Angst. Anstatt mal nen richtigen Urlaub zu machen, einen, bei dem du vielleicht nicht wahnsinnig viel von der Welt siehst, sondern einfach nur abhängst, machst du dir auch noch Stress im Urlaub. Du willst dich nicht am Strand einbuchen und nur mit nem Buch rumlungern, weil du das für Pärchenurlaub hältst und du dich dann alleine fühlst. Also vermeidest du es. Und machst dich k.o. Und du siehst richtig, richtig fertig aus.“

Er nahm ihr den Spiegel aus der Hand und folgte ihrem Rat: Selbst im Licht der Morgendämmerung, selbst bei vorteilhaften Lichtverhältnissen, sah er, was sie meinte. Man konnte ihm seinen Lebensstil ansehen. Und es stand ihm nicht. Es mochte Männer geben, die mit einem Dreitagebart, mit einem zerknittertem Gesicht nach einer durchzechten Nacht und wirren Haaren interessanter aussahen, er sah einfach nur müder aus. Müder und alt. Älter als 30. Wann war das passiert? Langsam fuhr er die Furchen unter seinen Augen entlang, dann drückte er ihr den Spiegel abrupt in die Hand und stand auf: „Ich brauche Schlaf.“

„Und den wirst du kriegen.“ – Zweifelnd drehte er sich zu ihr. – „Ich habe uns Handtücher eingepackt, und dir Sachen zum Wechseln von meinem Bruder, ne Badeshorts und eine Zahnbürste. Clive Cussler. Ich habe sein neustes Buch gekauft. Und Sonnencreme habe ich. Essen, viel Wasser, Strandspiele – nur für den Fall, dass du morgen fit genug bist.“

„Morgen?“ – „Morgen“, sagte sie bestimmt. – „Fahren wir nicht heute zurück?“ – „Nein. Ein guter Freund meiner Großeltern hat hier ein Appartement. Es war übers Wochenende frei und er hat es mir zur Verfügung gestellt.“

So einfach. Aha. So leicht war es, sein Leben durch wen anders regeln zu lassen. Es gefiel ihm nicht. Wenn sie ihn gefragt hätte, dann hätte er … Hätte er wirklich zugestimmt mit ihr nach hier zu kommen? Ehrlich gesagt, hätte er vermutlich darauf bestanden, dass er gerade erst aus dem Urlaub gekommen, dass er letztes Wochenende auf dem Festival gewesen war, und dass er nun ein Wochenende zuhause verbringen wollte. Mit der Reinigung der Wohnung, den Partys und dem Alkohol. „Morgen Abend bin ich mit Alexandra verabredet.“ – „Sag ihr ab.“ – „Bitte?! Kai versteh ich ja noch. Aber Alex… Können wir nicht morgen einfach früher zurückfahren?“ – „Nein. Ich setze mich nicht unter Druck. Und ich lasse mich auch nicht unter Druck setzen.“

So langsam meldete sich seine Wut auf sie und ihre Aktion. Ja, sie waren seit Jahren befreundet, ja, sie hatten viel miteinander unternommen, ja, ja, ja. Aber sie konnte doch nicht einfach so über sein Leben bestimmen? Er war 30 Jahre alt und hatte bisher alles gut alleine geregelt. Und er wollte Alex wirklich gerne sehen. Sie hatten sich fast zwei Monate nicht mehr treffen können. Sie fehlte ihm. Irgendwie. Es war immer lustig, mit ihr was zu unternehmen. Wenn auch anstrengend, weil er mit ihr und ihrer Art mithalten musste und das seiner Natur eigentlich widersprach, denn sie war viel aufgedrehter als er. Isa bezeichnete sie als künstlich und laut. Und so ganz konnte er das nicht abtun, aber vielleicht war das gerade das Reizvolle an ihr. Vielleicht…

„Sollen wir wo frühstücken gehen? Oder wir können auch erst unsere Sachen ins Appartment bringen.” – „Warum fragst du? Du hast doch bisher auch alleine bestimmt…“ – „Dann gehen wir erst ins Appartment“, sagte sie und ignorierte seinen motzigen Unterton. Sie öffnete den Kofferraum, entnahm zwei Taschen, zwei Strandmatten und einen Sonnenschirm und drückte ihm einen Teil davon in die Hand. Dann schloss sie ab und marschierte zielstrebig auf ein mehrgeschossiges Haus direkt an der Strandpromenade linkerhand des Parkplatzes zu: „Die Lokale haben sowieso noch gar nicht auf. In ner halben Stunde vielleicht.“

Ein Gedanke zu “Der Ungebundene II

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