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Rückblende – Drei Tage zuvor
Zwei Tage nach dem Billardabend und drei Abende vor Silvester trafen sie sich für ihn unerwartet, von ihr herausgefordert, auf einem Konzert wieder. Mit mehreren anderen Bands hatte seine Band ein Jahresabschiedskonzert organisiert, aber er hatte nicht erwartet, dass sie im Kreis seiner Freunde stehen würde, als er verschwitzt die Bühne verließ. Er musterte sie kurz, sie lächelte. Doch anstatt zu ihr zu gehen, ging er zur Toilette und holte sich dann ein Bier. Er versuchte sich auf die Band, die mittlerweile die Bühne eingenommen hatte, zu konzentrieren, aber es misslang ihm.
Es würde ihm keine Ruhe lassen, deswegen ging er zu ihr hin: „Stalkst du mich?“
„Mit Vorliebe.“
„Pass nur auf, sonst hetze ich meine Freunde auf dich.“
„Da hab ich ja Glück, dass deine Freunde mich ziemlich gut leiden können.“
„Hm, verstehe gar nicht, wie du das geschafft hast.“
Wegen ihres Exfreundes hatte sie sich die letzten Jahre auch von der Clique zurückgezogen, war aber vorher jahrelang gut mit den meisten Einzelmitgliedern ausgekommen, so dass es nicht weiter verwunderlich war, dass sie nun wieder leicht Anschluss erhielt: „Durch meinen unwiderstehlichen Charme.“
„Ziemlich eingebildet, oder?“
„Ist die Wahrheit.“
„Ja, ich weiß.“
„Ihr habt gut gespielt“, sagte sie.
„Als hättest du Ahnung von Musik.“
Sie grinste: „Du kannst aufhören ein Arsch zu sein.“
Er gab einen Grunzlaut von sich, grinste dann aber zurück: „Na gut… Danke.“
„Wofür?“
„Für das Kompliment.“
„Kein Problem.“
„Ich gehe zu…“
Sie musste wieder grinsen: „Schon klar… Wir sehen uns gleich noch.“
„Nein, ich wollte dir eigentlich anbieten mitzukommen.“
„Mitzukommen? Aber du willst doch poggen gehen? Da komm ich sicher nicht mit.“
„Bleibst du noch?“
„Bin doch gerade erst hier…“
Er nickte. Dann ging er ohne ein weiteres Wort.
Während er bei seinen Bandkollegen auf der Tanzfläche war, drehte er sich mehrere Male – betont unauffällig – zu ihr um, nur um zu sehen, ob sie wirklich noch da war. Nachdem die zweite Band nach seiner Band ihren Gig beendet hatte, kam er zu seinen Freunden zurück, wo sie sich gerade mit Rüben unterhielt. Er wollte nicht… Er wollte ihre Unterhaltung nicht unterbrechen oder auf sonst irgendeine Art und Weise Anspruch auf sie erheben, darum holte er sich ein Bier. Doch als er zurückkam, redete sie immer noch mit Rüben und Chris verwickelte ihn in ein Gespräch über Fußball. Er gab sich wirklich Mühe, sich nicht anmerken zu lassen, dass sein Blick immer wieder zu ihr und Rüben schweifte, aber Chris merkte es trotzdem und stellte trocken fest: „Du hast auch schon mal mehr Interesse an unserer Mannschaft gezeigt.“
Er sah ihn fragend an.
„Du weißt genau, was ich meine. Geh schon zu ihr hin.“
Normalerweise war Chris wirklich der Blindeste von allen, umso erschreckender war es, dass er so klar sehen konnte, oder dass sein eigenes Verhalten offenbar so leicht zu durchschauen war.
Rüben lachte in diesem Moment lauthals über irgendwas, das sie gesagt hatte, und er fühlte die altbekannte Eifersucht in sich hochsteigen. Immerhin war Rüben der gewesen, den er mal bei diesem einen Fußballspiel wegen ihr zurechtgewiesen hatte.
Chris stieß ihn an: „Mann, Alter, du sieht wirklich aus, als wäre dein Bier Zitronensaft.“
„Halt die Fresse.“
Statt zu ihr zu gehen, wandte er sich Anne zu, die ihn mit schräg gestelltem Kopf und breitem Grinsen ansah.
„Was?“ fauchte er.
„Nichts.“
„Ihr könnt mich alle mal!“ Und so was nennt sich dann Freunde. Grummelig ging er ein weiteres Mal auf Toilette, nur um sich seinen Freunden nicht aussetzen zu müssen. Auf dem Rückweg kam sie ihm entgegen und grinste: „Alles klar?“
„Wieso nicht?“
„Na ja, Anne meinte, du hättest nicht so gute Laune.“
„Schwachsinn.“
„Eben. Deine Hormone müssten nach eurer Bandperformance doch überschwappen.“
„Nicht nur deswegen…“
„Nicht?“
Er nahm sie ziemlich unvermittelt in seine Arme: „Ihr seid alle scheiße.“
„Wer sind wir alle? Und wieso sind wir scheiße?“ fragte sie und richtete sich dabei bequem in seinen Armen ein, denn ihr Körper passte sich seinem an, ihre Arme legten sich um seinen Hals.
„Mit alle meine ich all meine Freunde und dich. Und scheiße sind die, weil die sofort wieder irgendwelche Mutmaßungen über dich und mich anstellen. Und du bist scheiße, weil durch dich heute Abend hier diese Mutmaßungen auch noch Realität werden.“
„Du meinst, weil du mich im Arm hast?“
„Ich meine, weil ich geil auf dich bin. Dabei…“
„Aha… Dabei sehe ich gar nicht mehr so gut und jung und dünn und knackig aus wie früher, hm?“
Er machte ein Geräusch, das sein mangelndes Einverständnis mit dieser Aussagen durch einen gutturalen Klang ausdrückte und sah in ihre Augen: „Ja, klar. Du siehst ziemlich beschissen und alt aus… Mindestens wie 35. All die Falten und die grauen Haare.“
Sie neigte ihren Kopf leicht und sah auf sein Brustbein, um seinem forschenden Blick auszuweichen.
„Was ist?“
„Ich will dich nicht zu lange ansehen, weil ich…“
„Was?“
„Weil ich dich küssen will und ich habe mir fest vorgenommen, dich nicht zu küssen. Dich zu küssen wäre ziemlich scheiße.“
Seine eine Hand löste sich von ihrer Taille und nahm ihr Kinn hoch: „Wäre es das wirklich?“
„Ja. Weißt du nicht mehr, wie… Wir waren damals in so einer Spirale, aus der wir nicht rausgekommen sind und die uns beiden nicht geholfen hat und…“
„In der sind wir immer noch“, sagte er.
„Aber ich kann nicht… Nicht hier. OK?“
Er nickte.
„Was machst du Silvester?“
„Wir hatten vor beim Fußball ne Fete zu machen und…“
„Würdest du mit mir kommen?“
„Wieso? Was machst du denn?“
„Ich bin eigentlich auf ner Fete in Köln eingeladen, aber ich… Ich würde lieber an Silvester mit dir durchbrennen.“
Auf solche Ideen konnte wirklich nur sie kommen.
„Durchbrennen?“
„Ja. Wir könnten zum Beispiel nach Düsseldorf fahren und dort durch die Stadt strolchen und zum Jahresumschwung am Rhein sein und dann…“
„Wann hast du dir das denn alles überlegt?“
„Vor zwei Tagen, auf der Rückfahrt von dir weg nach Hause.“
„Glaubst du, dass es ne gute Idee wäre?“
„Hast du eine bessere?“
Er dachte kurz nach: „Nein, eigentlich nicht.“