Manchmal ist man mit jemandem zusammen, ohne diese Person zu lieben. Und man weiß, dass es ein Fehler ist, und man weiß, dass man es beenden sollte, aber etwas hält einen zurück. Ist es Feigheit vor dem Alleinsein? Ist es Unsicherheit sich selbst gegenüber?
Es gab eine Zeit in ihrem Leben, da liebte sie von ganzen Herzen. Den Falschen. Sie liebte und liebte und liebte ihn, nahm ihn an mit allen Makeln, die er hatte, und verzieh ihm jegliches Verhalten ihr gegenüber, weil sie es stets auf seinen besten Freund, den Alkohol, schieben konnte. Anstatt ihn zu hassen, hasste sie den Alkohol, denn das war einfacher.
An einem Silvesterabend stand sie plötzlich vor ihm, obwohl er gedacht hatte, sie sei mit seiner und ihrer Clique in einer anderen Stadt. Aber sie hatte nicht ohne ihn Silvester feiern können. Also war sie dorthin gekommen, wo er sein würde, und das Lächeln auf seinem Gesicht zeigte ihr, wie sehr es ihn freute. Er zog sie an sich und wünschte ihr ein frohes neues Jahr und sagte, dass er sich um sie kümmern wollte. Und das tat er. Einen Monat lang.
Doch sie zerbrach das Zwischenihnen, das eigentlich sowieso schon längst zerbrochen war, weil sie einander nie würden wirklich vertrauen können, indem sie ihm offen misstraute. Daraufhin meldete er sich nicht mehr bei ihr. Als sie sich das nächste Mal sahen, war er hilflos und bat: „Sag mir, was ich machen soll.“ – „Wenn du es nicht weißt, heißt das, dass ich es jedenfalls nicht bin, die du willst, und wir können es lassen.“ – Und er sah sie an, zögerte, erklärte dann jedoch: „Ich weiß nicht, wie du das siehst, und ob du es lassen willst. Aber ich weiß, dass mir an dir, auf eine Art und Weise, die ich absolut nicht begreife, mehr liegt, als an allen Mädchen, mit denen ich vorher zusammen war oder mit denen ich was hatte. Wir kennen uns drei Jahre und vier oder fünf Tage davon waren perfekt. Mit uns. Perfekt. Diese Tage mit dir haben mir mehr bedeutet, als alles vorher, an denen hat alles gepasst, denn eigentlich waren es die besten Tage meines Lebens.“
Und nachdem er ihr das gestanden hatte, meldete er sich nicht mehr und verliebte sich in eine Andere.
Was sollte sie nun machen? Allein gelassen mit der tiefen, unerschütterlichen Liebe zu ihm stand sie in der Disco und vergaß zu atmen. Dort war er und er hatte eine Andere mitgebracht. Er war mit ihr zusammen. Alle Hoffnung, die sie in das Zwischenihnen gesetzt hatte, waren vergeblich gewesen. Sie wusste, er war ein Teil ihrer Seele, aber sie musste ihn gehen lassen.
Ihr Körper begann zu bibbern, ihre Zähne klapperten aufeinander, sie musste weg, raus, von irgendwoher wieder Luft bekommen. Irgendwie ihre Sinne zurückerhalten. Darum eilte sie von ihm und seiner Neuen weg, lief jemand anderem über die Füße, flirtete, tauschte Nummern, traf sich einige Tage später mit ihm, küsste ihn, ließ es laufen. Und es lief und lief.
Nach drei Wochen sagte der neue Andere, er sei schon mit Frauen zusammen gewesen, mit denen er weniger gut ausgekommen sei. Und sie bat ihm, ihr mehr Zeit zu geben. Sie könne nicht sagen, was das mit ihnen werden würde, denn sie sei nicht in ihn verliebt.
Ja, ehrlich ist sie ihm gegenüber gewesen, aber fair war sie wohl dennoch nicht.
Immer wieder überlegte sie, ob sie die Beziehung beenden sollte. Doch dann hatte er einen Bänderriss und war an sein Bett bzw. die Couch gefesselt; dann hatte sie Geburtstag, dann hatte er Geburtstag, dann war die Weihnachtszeit … Immer gab es Gründe, das Schlussmachen zu verschieben; und doch war wohl der wichtigste Grund, dass der, den sie eigentlich liebte, mit seiner Freundin zusammen – und glücklich war. Und das, obwohl sich ihre Seelenverwandtschaft zeigte, als sie ihrem Freund Louis Armstrongs „I say tomato, you say tomatto“ vorsang und ihr Seelenpartner es einer gemeinsamen Freundin zwei Wochen später vorträllerte. Welche 22- und 23-jährigen singen Louis einfach mal so?!
Und dann ging sie ihrem Freund mit einem Dritten fremd. Und weil sie kein schlechter Mensch sein konnte, zumindest nicht vollkommen, gestand sie es ihm und sie beendeten ihre Beziehung. Bis er vor ihrer Tür stand und sie gemeinsame Dinge zu unternehmen begannen. Und im Bett landeten. Und es wieder miteinander versuchten.
Ihr Freund meinte, dass er ihr vielleicht nie ganz verzeihen könnte. Es hätte ihr eine Warnung sein sollen.
Auf einmal hatte er sie in der Hand. Wenn sie mit Jungen sprach, hoben sich seine Augenbrauen; wenn sie Studienarbeiten mit männlichen Kommilitonen erledigen sollte, schüttelte er den Kopf; wenn sie mit ihren Freundinnen einen Mädelsabend veranstalten wollte, hinterfragte er den Sinn eines solchen Abends: Was müssten denn Mädchen besprechen, was sie nicht auch sagen könnten, wenn ihre Freunde dabei seien?!
Gefiel ihm ihr Verhalten ihm gegenüber nicht, kamen Worte über seine Lippen wie: „Wenn der Kuchen redet, haben die Krümel zu schweigen.“ Und sie wusste, ein Leben mit ihm könnte ihr niemals alles geben. Nur ein Viertel Herz und ein halber Verstand standen hinter der Entscheidung, mit ihm zusammen zu bleiben. Der Rest der beiden hing an Träumen und dem Wissen, dass sie ohne die Träume nie vollkommen glücklich werden konnte. Sie wünschte sich, er könnte ihr reichen, aber sie war sich fast sicher, dass er das nie tun würde.
Immer noch keine Liebesgefühle habe sie für ihn, sagte sie ihm bei einem Telefonat, nachdem sie fast zwei Jahre zusammen waren. Und er war erstaunt. Ja, auch fassungslos wohl. Und erschrocken. Sie fragten sich nach dem Sinn ihrer Beziehung. Doch beendet haben sie sie an dieser Stelle nicht.
Und dann war ihr Seelenverwandter wieder solo. Und sie wusste, sie konnte nun nicht mit dem Anderen Schluss machen. Denn das wäre berechnend gewesen – und wer will schon berechnend sein?
Als aber einmal mehr das Thema auf den Sinn ihrer Beziehung kam, sagte sie, dass sie nicht mehr daran glaube, jemals genug Gefühle für ihn zu entwickeln. Sie setzte ihn bei sich Zuhause ab, wendete den Wagen und fuhr fort. Doch er rief an, weinend, bittend, bettelnd, sie solle zurückkommen, er könne nicht ohne sie, er wolle nicht ohne sie. All das würde seiner Definition von Liebe sehr nahe kommen. Er wisse, er habe es ihr mit seiner Eifersucht nicht leicht gemacht, doch er würde sich ändern. Und weil sie ihn nicht so verletzt hören und sehen wollte, knickte sie ein.
Es war Frühling und der Monat, in dem sie fünf Jahre zuvor den Mann, den sie immer noch liebte, kennengelernt hatte. Und sie musste an ihn denken an diesem Morgen. Vielleicht darum zog sie sich mit Bedacht an, frisierte sich die Haare hundertfach, ehe sie einsehen musste, dass sie nie gut liegen würden, und marschierte kurz entschlossen zum Friseur. Und während ihre Haare anschließend noch in der Sonne trockneten, führten all diese Verzögerungen in ihrem Tagesablauf dazu, dass sie ihn zufällig am Bahnsteig traf. Sie ging zu ihm, stellte sich neben ihn und sie redeten. Auch im Zug saßen sie nebeneinander und während sie in seine Augen blickte, erkannte sie, wie müde, wie abgeschlafft, wie faltig sie geworden waren. Ihr lebhaftes Türkis war wegen der Sorgen um seinen im Koma liegenden Vater und wegen der Art, wie er sein Leben führte, verblichen.
Nein, diese Begegnung verschwieg sie dem Anderen, ihrem Freund, doch als der sie im Sommer fragte, ob sie immer noch an ihren Ex denken würde, ob sie sich immer noch vorstellen könnte, ihn zu küssen, da nickte sie zögerlich, aber wahrheitsgemäß, und der Andere stellte ihr ein Ultimatum: In drei Wochen sei der zu vergessen oder es sei Schluss.
Irgendwie hoffte sie, dass ihr Auslandssemester einen Keil in ihre Beziehung treiben würde. Denn auch sein Ultimatum hatte das noch nicht endgültig geschafft. Und sein Verhalten während ihrer Zeit Übersee war dazu angetan, ihn mehr und mehr zu hassen. So verbat er ihr in Jugendherbergen zu übernachten, weil sie dort andere Männer kennenlernen könne; er verlangte, jeden Abend mit ihr zu kommunizieren (Email, ICQ oder Telefon), denn nur wenn er sie abends damit beschäftigt wusste, vertraute er ihr; er regte sich auf, wenn ein Telefonat nicht mit dem Wort „Kuss“ endete; er … war ein Vollidiot. Und dennoch blieb sie bei ihm.
Es ist wohl nicht erstaunlich, aber im folgenden Jahr stritten sie sich immer wieder. Und immer wieder beugte sie sich seinen Anforderungen. Nur wenig war von der selbstbestimmten Frau, die sie zu Anfang ihrer Beziehung gewesen war, übrig geblieben. Sie fühlte sich fade und alt und ausgelaugt. Sie sehnte sich nach dem Meer, der Luft, nach warmen Nächten, nach Dingen, die sie gar nicht beschreiben konnte. Am liebsten hätte sie sich in ihr Auto gesetzt, hätte alle Brücken abgebrochen und wäre irgendwann wieder gekommen. Wollte sie fliehen?
Etwas fehlte ihr in ihrem Leben. Oder war es jemand?!
Sie musste weinen. Als sie die letzte Studienprüfung hinter sich gebracht hatte und auf das Bild ihrer Großeltern sah, musste sie weinen. Die Tränen rannen. Nicht einfach so, natürlich. Sondern schmerzend, heiß, tiefenschwer. Ihr Leben lag offen vor ihr, doch sie wusste nicht, wohin. Sie wollte Sicherheiten und keine; sie wollte ein Haus oder eine Wohnung oder doch nichts. Schreiben, ja, das konnte sie, sie wusste es. Aber davon leben? Wie sollte das gehen? Und ihr Freund? Wollte sie ihn oder nicht?
Doch dann: Ein Lächeln mit nassen Augen. Es war ihr Leben. Ihres. Es lag vor ihr, vor niemandem sonst. Sie konnte es gestalten. Nur sie allein war für ihr Glück zuständig. Immer. Ja, ihr Studium war vorbei; das Lernen war vorbei. Warum also nicht auf zu neuen Ufern?
Und als ihr Freund dann meinte, bevor sie zusammenzögen, müsse er aber erst ihr Tagebuch lesen, um ihr vertrauen zu können, da schimmerte ihr altes Selbst durch und sie zischte: „Wenn du das wirklich ernst meinst, dann können wir es gleich lassen, denn mein Tagebuch gebe ich dir niemals.“ Und als er ihr eine Szene machte, weil sie Heiligabend bis sechs Uhr feiern war, beendete sie noch am Weihnachtstag ihre Beziehung und schwor sich, nie wieder eine Beziehung mit halbem Verstand und einem Viertel Herz einzugehen. Lieber wollte sie ihr Leben lang einsam sein.
Und nie hatte sie sich so frei gefühlt. Nicht frei von dem, den sie eigentlich liebte; aber frei von dem Anderen, und frei, ihr Leben wieder selbst in die Hand zu nehmen. So frei.
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Hey, Stefnini, das hast du wirklich toll geschrieben – gute Story, Respekt!
Gruß, Ida
Liebe Ida, danke dir. Die Story ist biografisch. An ihr habe ich also nicht viel dazu getan… lieber gruß
Ja, das hatte ich eigentlich vermutet… es klang sehr authentisch. Ich hatte auch mal eine ähnliche Sache mit dem Nichtvergessenkönnen – ich kann also diese Geschichte sehr gut nachvollziehen!
Liebe Grüße,
Ida
Habe die Kurzgeschichte sehr, sehr gern gelesen. Danke für den traurig schönen, aber klaren Moment, den du mir damit bereitet hast.
Danke dir!
Ich finde es immer wieder schön, wenn Leute sich hinsetzen und tatsächlich auch die längeren Sachen lesen.
Lieber Gruße!
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Hallo 🙂
Gibt es irgendeine Möglichkeit dich zu kontaktieren?
Oder vielleicht schreibst du mir einfach eine Mail?! 🙂
heartshapedlife@gmx.de
GLG
Hi, hab dir geschrieben. Lieber gruß
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