Räuber 8

Drei Tage später war das Wochenende herangerückt und er ging mit den Jungs aus seiner Stufe saufen und feiern. Sie waren in einer Disco in der Stadt und er stand an der Theke, um eine Runde zu bestellen und zu bezahlen. Da stellte sich ein Mädchen neben ihn. Sie lächelte ihn an und er bemerkte ihre grünen Augen. Schöne grüne Augen.

Hi“, rutschte es aus ihm heraus. Es war ein Reflex von früher, all die anzusprechen, die ihm auffielen. Das war nicht schlimm, denn Charlotte kannte diesen Reflex und lebte gut mit ihm. Doch an diesem Abend … An diesem Abend war das erste Mal mehr dahinter. Ihm gefiel das Mädchen nicht nur, er wollte sie. Er wollte mit ihr reden und sie kennenlernen und er wollte sie dann küssen. Ihm war bewusst, dass sie nicht besser sein konnte, als Lotte es für ihn war. Dennoch. Dennoch wollte er sie küssen.

Vielleicht lag das an den vier Litern Bier, die er getrunken und den Tequilas, die er gekippt hatte; vielleicht lag es an seinen Problemen mit sich selber; oder vielleicht war er einfach ein Assi, ein schlechter Mensch, ein mieser Mensch … Er wusste nicht, was es war, aber schon nach einer halben Stunde küsste er das Mädchen und sie erwiderte den Kuss zu gerne.

Es war nicht viel Zeit vergangen, höchstens eine Minute, als ihn eine Hand am Oberarm packte und von dem Mädchen weg riss. Wütend funkelte Pascal ihn an: „Was machst du da?!“

Simon zupfte sich am Ohrläppchen und zog die Nase kraus. Was sollte er sagen? Dass er seinen männlichen Trieben nachgegeben hatte? Oder seinen menschlichen Trieben? Dass er … Dass er Lotte sowieso nicht verdient hatte, und diese Aktion es nur noch mehr zeigte? Wieso sollte ausgerechnet er den besten Menschen der Welt verdienen? Er, der eh nie was leisten würde.

Es war der Alkohol, der ihm das Gehirn vernebelt hatte. Es war das Teufelchen, das auf seiner Schulter saß, hämisch lachte und witzelte: „Ich hab es gewusst! Ich hab es gewusst! Du bist ein Arsch. Aus dir wird nichts, du kannst nichts und du wirst nie was haben. Und verdient, verdient hast du deine Freundin auch nicht. Ich hab es gewusst.“

Das Teufelchen hatte Recht. Und Pascal, der ihn hinter sich her riss, der hatte auch Recht. Auch wenn er seine Freundin nicht verdient hatte, so hatte sie es nicht verdient, dass er eine andere küsste.

Draußen vor der Disco baute Pascal sich auf: „Was sollte das? Kannst du mir das mal sagen?!“

Du bist nicht betrunken genug.“

Das stimmt. Ich bin heute unser Fahrer. Darum bin ich nicht betrunken. Aber nicht nur darum habe ich gesehen, was du gerade getan hast. Wieso hast du die geküsst? Die war vielleicht fünfzehn, hatte keine Ahnung und du, du bist 19 und du hast eine Freundin. Also?“

Weiß nicht. Ich hab auch keine Ahnung.“

Mensch! Was glaubst du eigentlich? Ich dachte, du magst Lotte?“

Ja, tu ich. Mehr als mögen, aber …“

Da gibt es kein Aber. Wenn du mit ihr zusammen und mit ihr glücklich bist, dann machst du so was nicht, klar?! Was ist eigentlich los mit dir? Meinst du nicht, dass es vier Bier weniger auch getan hätten? Und die fünf Pinnchen Wodka oder Tequilla, mussten die sein? Kaum gehst du mal wieder alleine raus, ohne sie, benimmst du dich daneben.“

Halt mir keinen Vortrag, ja? Oder willst du Lotte? Willst du mich schlecht machen, damit ich sie dir überlasse?“

So ein Scheiß, Simon! Ich will Lotte nicht. Nich, weil sie nicht toll wäre, sondern weil du mein bester Freund bist. Was soll ich dann mit ihr wollen? Du bist mit ihr zusammen und niemand sonst. Aber du benimmst dich gerade nicht so, als würde dich das wirklich interessieren. Oder siehst du das anders?“

Simon grunzte nur und stapfte davon. Ohne Jacke, ohne Freunde, ohne Bier. Auf nach Hause. Und Pascal ließ ihn laufen. Die frische Luft konnte nur gut tun.

Ob die Luft allerdings wirklich gut tat, ist zweifelhaft. Denn nachdem Simon Zuhause angekommen war, einen dreistündigen Marsch hinter sich hatte und die aufgehende Sonne hatte beobachten können, trank er sich Zuhause noch zwei Bier und fiel dann ins Bett. Am Nachmittag dieses angebrochenen Tages lag er immer noch dort. Er wagte sich nicht raus. Er wollte weder seine Eltern sehen, noch Lotte wie vereinbart anrufen. Stattdessen wollte er sich lieber wie Dreck fühlen, Dreck, der er war. Mieser Dreck. Scheißdreck. Ein Arsch. Ein versoffenes Scheißarschloch. Er hatte Lotte betrogen. Vielleicht ist ein Kuss nicht viel, aber für ihn war es Betrug. Und hätte Lotte jemand anderen geküsst und er hätte das bemerkt … Dann … Dann würde der andere nicht mehr gerade gehen können. Sein Leben lang nicht mehr.

Er war enttäuscht. Enttäuscht von sich selbst. Was sollte er tun? Wie wäre es, wenn er erst einmal die Finger von dem Alkohol lassen würde? Aber hatte er das denn nicht schon versucht? Erfolglos? Doch. Eine Woche war das höchste der Gefühle gewesen. Eine verdammte Woche. Und nun? Was jetzt? Es hatte doch keinen Sinn. Er wollte nicht lügen, aber er konnte ihr nicht die Wahrheit sagen. Sie würde ihm nicht glauben, dass er sie liebte, wenn er ihr sagte, dass er eine andere geküsst hatte. Überhaupt, sie hatten einander noch nie gesagt, dass sie sich liebten. Und jetzt hatte es keinen Sinn mehr. Was für einen Wert hatte es noch? Wieso hatte er es getan? Wieso war er ein so beschissener Mensch, wenn er in Selbstmitleid ertrank? Vielleicht war der Simon besser gewesen, der nur oberflächlich mit Mädchen zusammen gewesen war?! Dieser Simon hatte immerhin auch eine Menge Spaß gehabt…

Er wusste es nicht. Er wollte Lotte nicht gehen lassen, aber er konnte nicht mit ihr zusammen sein, nicht, wenn er sie anlügen musste.

Zögernd griff er zum Telefon. Er verabredete sich mit ihr, und es tat ihm weh zu hören, dass sie sich auf das Treffen freute.

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