Dieses absout privilegierte Leben, das viele von uns führen, machen wir uns viel zu selten bewusst. Es schien so, als sei in den letzten Jahren Vieles beschissen gelaufen, und im Vergleich zu davor ist es das ja auch. Viele kamen durch Betreuungssituationen, durch Ängste, durch Ärger, durch vermeintliche Spaltungen, durch Kriege, durch Inflation, durch gestiegene Kosten für Energie und Bauprojekte sicher an Grenzen, die sie nicht erwartet haben. Aber wie schlimm war es wirklich?
Vor einem Jahr lebten acht SchülerInnen meiner internationalen Klasse nur noch wenige Tage in Frieden. Eine Bedrohung war näher gerückt, aber nicht greif-, nicht fassbar. Dann kam der Tag, an dem die Bomben zu fallen begannen, nicht nur im Osten der Ukraine, wie es erwartbar gewesen wäre, und irgendwann bald auch der Tag, an dem ihre Mütter sich zur Flucht entschieden.
Über 1200 Kinder und Jugendliche, überwiegend ukrainisch, warteten im vergangenen Sommer auf Schulzuweisungen in unserem Gebiet, erhielten sie und blockierten innerlich zum Teil. Warum die andere Sprache lernen, man würde ja sowieso nur zwei, drei Monate hier sein. Die Ukraine ist die Heimat, ist das Herzensland, dort sind die Ehemänner, die älteren Söhne, die Väter, die Familie, die Häuser und Wohnungen, die meist ja noch intakt sind. Und unterrichtet wurden (und werden) sie nachmittags durch die ukrainische Onlineschule, wo sie Aufgaben abliefern und Teste/Arbeiten schreiben müssen. Warum also morgens in der deutschen Schule konzentriert sein?!
Die acht SchülerInnen kommen aus einem Schulsystem, das weniger anwendungsbezogene Aufgaben kennt, aber wo sie thematisch in vielen Fächern weiter sind. Nach der 9. Klasse kommen sie in die Oberstufe. Nach zwei Jahren Oberstufe können sie studieren. Sie wollen nicht den Anschluss an dieses System verlieren und leisten alle ihre nachmittagliche Arbeit, lernen den Stoff, erhalten die Noten. Und hier erkennen wir es nicht an. Wenn sie die 11. ukrainische Klasse abgeschlossen haben und studieren könnten, sind sie für die Bezirksregierung gerade mal gleichwertig zum Realschulabschluss – und zwar gleichberechtigt zu dem ohne Gymnasialempfehlung. Noch einmal: In der Ukraine studieren sie, hier dürfen sie nicht mal in die Oberstufe.
Sie könnten nun also ein Studium in der Ukraine beginnen, um dann nach einem Semester an eine deutsche Uni zu wechseln, damit umgingen sie das deutsche Abitur. Aber. Online von Deutschland aus darf man nicht an der ukrainischen Uni studieren. Und wenn man in der Ukraine ist, funktioniert die Stromversorgung je nach Ort so schlecht, dass man kein Onlinestudium durchziehen kann.
Mit drei meiner SchülerInnen, 10. Klasse, habe ich mir heute ein Berufskolleg angesehen. Eine ist schon ganz gut und wird den Realschulabschluss vermutlich schaffen, weil sie in der Ukraine bereits Deutsch gelernt hat. Die anderen beiden lernen es seit sechs Monaten und sind schon am Ende vom Niveau A2. Sie hätten noch anderthalb Jahre Zeit zum Deutschlernen, müssten noch anderthalb Jahre nicht benotet werden. Aber ihnen wird so viel Zeit im Vergleich zum ukrainischen System gestohlen, dass die beiden sich heute vorgenommen haben: Im nächsten Monat werden wir mit B1 fertig. Utopisch in meinen Augen. B1 heißt, dass sie am normalen Unterricht teilnehmen können. Komplett. Niemals wird die Sprache so vertieft sein, dass sie es schaffen werden, ohne dass wir zehn Augen zudrücken.
Und so werden sie in den kommenden Wochen von morgens bis mittags plus dreimal bis halb vier bei uns in der Schule sitzen und dem deutschen Unterricht folgen, dann nach Hause gehen und Deutsch lernen und parallel den ukrainischen Unterricht besuchen, am Wochenende lernen und keine Zeit haben, 15 und 16 Jahre alt zu sein. Es ist nicht meine Entscheidung, es ist nicht die der Eltern. Es ist ihre.
Sie lassen sich von Putin die Jugend stehlen, aber sie wollen sich nicht auch noch Jahre bis zum Schul- und Uniabschluss stehlen lassen.
„Wenn mein Bruder, der in der Ukraine bleiben musste, eingezogen wird, gehen wir zurück in die Ukraine. Wir wollen ihn da nicht alleine kämpfen lassen, ohne dass wir in der Nähe sind.“
„Mein Traumurlaub ist, nach Kiew zu fahren, bei meinem Vater zu sein und in meinem Bett zu schlafen.“
„Väter mit drei Kindern dürfen die Ukraine verlassen. Wir sind aber nur zwei Kinder.“
Und es sind ja nicht nur die ukrainischen SchülerInnen. Auch A., 2019 aus Syrien nachgeholt, sitzt in einer Klasse: „Hier in der Schule fallen wenigstens in meinem Rücken keine Bomben.“ Und H. aus Syrien trauerte ein halbes Jahr lang um ihren Vater, von dem man glaubte, dass er im selben Bombenhagel wie ihr Bruder umgekommen sei, bis er aus dem Krankenhaus entlassen sechs Monate später vor seiner Familie stand.
Die Schulen sind voll von Schicksalen. Mehr als jedes 2. Kind, das ich unterrichte, wahrscheinlich sogar eher 80-90% der Kinder haben bisher mehr Leid erfahren, als ich in meinen ganzen über 40 Jahren zusammen genommen. Jammern verbietet sich da. Es kann uns nicht immer gut gehen, aber wir hatten es so viel besser als all diese Kinder.