Der alternative Schluss

Der nieselnde Regen hat uns schon ziemlich benässt, ab und an kommt ein kühler Wind auf, der uns zittern lässt. Und doch will ich ihn nicht gehen lassen. Und er drängt immer noch nicht in die Disco zurückzukehren. Wir stehen voreinander, er die Kapuze seines Sweatshirts über dem Kopf, ich die Kapuze meiner Winterjacke bis über die Augenbrauen gezogen. Ich nehme die Kordel seines Sweatshirts in meine Hand und sehe ihn an: „Ich will nicht billig oder nuttig erscheinen, aber ich will dich küssen.“

Ich sehe ihn weiter an, und so wie die ganze Zeit über, so weiß ich auch jetzt, dass wir uns küssen werden. Egal, wie sehr er sich dagegen gesträubt hat. Ich weiß, dass er meinen Kuss erwidern wird.

„Es ist falsch“, versucht er es noch einmal halbherzig und viel zu leise.

„Das ist mir egal“, mit beiden Händen halte ich den Bund seines Sweatshirts und ziehe ihn zu mir. Seine Hände legen sich auf meine Taille, unsere Münder nähern sich… Und dort im Regen meiner Lieblingsstadt, dort, wo eine lange Diskussion vorausgegangen ist, dort im Dunklen unter Straßenlaternen, dort küssen wir uns. Wir küssen uns, nachdem wir alles geklärt haben.

Ich löse den Kuss: „Lass uns morgen nicht telefonieren!“, und lege meine Arme um seinen Hals.

Er lächelt, zieht mich näher zu sich: „Wir haben keine Verpflichtungen. Wenn ich dich bei einem Type im Arm sehe, komme ich nicht zu dir und rege mich auf; und wenn ich ne Tuse im Arm habe, dann hast du auch keinen Anspruch auf mich.“

Ich nicke, auch wenn der Gedanke schmerzt. Ein weiterer intensiver Kuss folgt.

Er: „Oh man, so habe ich noch nie Schluss gemacht.“

Ich lächle: „Mir liegt zuviel an dir, als dich einfach so gehen zu lassen“, sage ich, küsse ihn erneut, drehe mich um und gehe, ohne mich noch einmal umzusehen, in die diesige, nebelige Stadt hinein, renne am altehrwürdigen Dom vorbei, durchquere die kleinen Gassen. Mir ist kalt, ich friere, aber ich fühle mich so wohl und frei wie lange nicht mehr.

2 Gedanken zu “Der alternative Schluss

    1. Hi Ben,
      Ja, es ist tatsächlich ein Moment, an den ich gerne zurückdenke, weil es so versöhnlich war. Und danke fürs Kompliment. Es gilt tatsächlich dann eher meinem 20jährigen Ich, weil ich den Text mehr oder weniger von damals übernommen habe. Nur die Kommasetzung war um Längen schlechter als heute 👩‍🏫

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